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Zum Inhalt: Ein Fischerdorf in Andalusien 1937 nach Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs. General Francos Truppen rücken immer näher. Im Haus der Teresa Carrar und ihrer beiden Söhne José und Juan ist das ferne Dröhnen der Bomben schon dumpf zu hören, aus dem Radio plärren die hasserfüllten Einschüchterungsparolen der Faschisten. Frau Carrar hat ihren Söhnen verboten, sich dem Kampf gegen Franco anzuschließen. Denn sie sind arme Leute, wie die Carrar sagt, «und arme Leute können nicht Krieg führen». Verzweifelt hofft sie, von Krieg und Terror verschont zu bleiben. Doch wie lange kann Frau Carrar sich und ihre Söhne noch schützen? Und was soll sie ihrem Bruder entgegnen, der sie auffordert, die im Haus versteckten Gewehre herauszugeben und der die alles entscheidende Frage stellt: «Wenn dich die Haifische angreifen, bist dann du es, der die Gewalt anwendet?» Anders als Bertolt Brechts Lehrstücke wirkt sein Schauspiel «Die Gewehre der Frau Carrar» geradezu realistisch. Brecht selbst spricht sogar fast entschuldigend von «Einfühlungsdramatik». Dabei kreist in seinem kurzen Stück alles um die beunruhigende Frage, ob es angesichts eines von Vernichtungs- und Unterwerfungswillen getragenen gewaltsamen Angriffs das Recht oder überhaupt die Möglichkeit neutraler Enthaltung gibt – eine aus heutiger Perspektive erschreckend aktuelle Frage.
1938 regte Brecht an, sein Stück könnte beispielsweise zusammen mit einem Dokumentarfilm gezeigt werden. Das Residenztheater hat stattdessen den Dramatiker Björn SC Deigner beauftragt, Brechts bohrende Frage mit einem eigenen Stücktext in der Gegenwart fortzuführen: «Würgendes Blei» sucht dabei nach einer Sprache für den überzeitlichen Schrecken von Krieg und Zerstörung.
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Zum Inhalt: Der französische Autor Georges Perec zählt zu den bedeutendsten und innovativsten des 20. Jahrhunderts. Jeder seiner Romane folgt einem anderen formalen Konzept – fast alle genießen Kultstatus. 1968 schrieb er im Auftrag des SR/WDR ein Hörspiel, in dem eine Maschine die Aufgabe hat, ein Gedicht zu analysieren. Perec, dessen Vater im Krieg gegen die Deutschen fiel und dessen Mutter vermutlich in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, wendet Techniken der Informationstheorie und Programmiersprache ausgerechnet auf das wohl berühmteste deutsche Naturgedicht an: »Wandrers Nachtlied« von Johann Wolfgang von Goethe. In Perecs Hörstück kommunizieren keine Menschen sondern Schaltkreise. Was dabei allerdings zu Tage tritt, ist nicht nur die analytische Arbeitsweise künstlicher Intelligenz – überraschenderweise offenbart sich in der sprachlichen De- und Rekonstruktion des Gedichts auch die Funktionsweise von Poesie. Und damit gerade die Differenz zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz. Die abstrakte Analyse der Maschine zaubert aus dem goetheschen Achtzeiler in streng formaler Ordnung immer neuen Sinn und Unsinn, immer neue semantische Schönheiten und Absurditäten hervor.
Die preisgekrönte Regisseurin Anita Vulesica, die mit »Die Maschine« ihr Debüt am Deutschen SchauSpielHaus gibt, geht in ihrer Inszenierung noch einen Schritt weiter: Bei ihr arbeitet die künstliche Intelligenz der Maschine, indem sie nach dem Wesenskern menschlicher Poesie sucht, an der Rettung der Menschen vor sich selbst und einer alles beherrschenden instrumentellen Vernunft.
Regie: Anita Vulesica
Bühne: Henrike Engel
Kostüme: Janina Brinkmann
Musik: Camill Jammal
Körperarbeit & Choreographie: Mirjam Klebel
Video: Phillip Hohenwarter
Licht: Susanne Ressin
Dramaturgie: Christian Tschirner
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Zum Inhalt: Das Stück Kontakthof von 1978 ist eines der Schlüsselwerke von Pina Bausch und entstand zu einer Zeit, als ihre Arbeit gerade erst begann, internationale Aufmerksamkeit zu erregen.
Es heißt, Pina habe sich oft ausgemalt, wie es wohl wäre, ihre Originalbesetzung das Stück in viel höherem Alter tanzen zu sehen. Jetzt, 46 Jahre später entwickelt die Choreografin Meryl Tankard, selbst eine der zentralen Protagonist:innen der Originalbesetzung, eine Neubegegnung mit „Kontakthof“.
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Zum Inhalt: Die Tür ist zu. Für die nächsten acht Jahre darf keine der Frauen das Haus verlassen, so verlangt es eine Tradition, die nach dem Tod des Mannes eine Trauerphase diesen Ausmaßes anordnet. Die fünf Töchter stehen unter Schock. Ihre Mutter Bernarda Alba setzt die Vorschrift unerbittlich um, und wenn es sein muss mit Gewalt. Das Haus wird zum Gefängnis. Abgeriegelt von der Welt und eingesperrt mit ihrem Hunger nach Leben, ihrer stillgelegten Sexualität und dem Begehren von Freiheit und Würde macht sich die Wut auf das repressive patriarchale System unter den Frauen breit. Bald richten sie den Schmerz gegen sich selbst und die anderen, bis es zur Katastrophe kommt.
Mit »Bernarda Albas Haus«, seinem letzten Stück kurz vor seiner Ermordung durch die Faschisten der spanischen Militärdiktatur, hat der Dichter Federico García Lorca eine der eindrucksvollsten Tragödien des 20. Jahrhunderts geschaffen. Die britische Autorin Alice Birch macht das erschütternde Drama um weibliche Unterdrückung, verhindertes Begehren und gewalttätige Generationskämpfe zu einer gegenwärtigen Bühnenerzählung. Dabei entwickelt sie das kunstvolle Kompositionsprinzip der simultanen Parallelmontage weiter, das sie gemeinsam mit der Regisseurin Katie Mitchell beeindruckend in der Inszenierung »Anatomie eines Suizids«, eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2020, angewandt hat.
Regie: Katie Mitchell
Bühne: Alex Eales
Kostüme: Sussie Juhlin-Wallen
Licht: James Farncombe
Komposition: Paul Clark, Melanie Wilson
Original-Soundesign: Melanie Wilson
Dramaturgie: Sybille Meier
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Zum Inhalt: Florentina Holzinger eröffnet SANCTA mit Paul Hindemiths einaktiger Oper Sancta Susanna, in der eine Nonne brutale Bestrafung für ihre sexuelle Selbstbestimmung erfährt. Es folgt eine heilige Messe: Bach, Rachmaninow, Metal, Noise und zeitgenössischen Kompositionen treffen in einer musikalischen Tour de Force aufeinander, in der Magie und Wunder der Kirche eine Aneignung erfahren, aber auch ihr Bezug zu Opfer und Gewalt verarbeitet wird.
Der religiösen Disziplinierung und Bestrafung von Sexualität zum Erlangen von religiöser Ekstase stellt SANCTA einen lustvollen Gegenentwurf gegenüber.
Auf der Suche nach Transzendenz, verdrehen Körpermodifikationskünstlerinnen* die religiösen Topoi von Kreuzigungswunden, Penetration, Kannibalismus und Transformation; Show-Magierinnen* zeigen ihre Interpretationen der biblischen Wunder; die Sixtinische Kapelle wird zur Kletterwand, die Oper zum Rockmusical, Gott zum Roboter, Jesus Christus zu Jesus Christ Superstar. Die heilige Messe wird zum Spektakel, Magie und Wunder, so Florentina Holzinger, müssen zur realen Möglichkeit werden. Spinnenhaft und dunkel, laut und exzessiv, lustig und erlösend, fordert SANCTA religiöse Konventionen heraus, in dem Versuch sie gleichzeitig zu erneuern.
Florentina Holzinger gilt aktuell als eine der aufregendsten Theatermacherinnen und ist bekannt für ihre radikalen wie spektakulären Performances, die alle Grenzen sprengen. Für ihre Produktion Ophelia’s Got Talent an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin ist sie in zahlreichen Kritiker:innen-Umfragen ausgezeichnet worden, u. a. in der Zeitschrift Theater heute als „Theaterregisseurin des Jahres” und von der Zeitschrift TANZ für die beste Inszenierung des Jahres. Erstmals entwickelt sie nun eine Oper, bei der sie und ihre Performerinnen* gemeinsam mit Gesangssolistinnen, Sängerinnen des Chores und Orchester auf der Bühne stehen.
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Zum Inhalt: Auf den ersten Blick, scheint die Beziehung zwischen Connor und Felix ganz gut zu laufen. Doch jetzt ereilen Missbrauchsvorwürfe den berühmten Filmproduzenten Felix. Connor muss sich entscheiden, ob er weiter zu ihm hält. Dabei ahnt noch niemand, dass Connor ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit mit sich trägt.
Sam Max hat als Auftragswerk für das Hessische Staatstheater Wiesbaden einen surrealen Thriller geschrieben in dem sich die Lebenswege mehrerer Figuren auf dramatische Weise kreuzen.
Ein Penthouse in New York, fantastische Designerklamotten, ein erfolgreicher Freund in der Filmbranche und nun endlich der Auftrag für die Innenausstattung einer Villa – es scheint, als hätte Connor alles erreicht. Wären da nicht die Vorwürfe gegen seinen Freund Felix: Ein Ex-Partner behauptet, Felix hätte ihn betäubt und Organe entnommen. Die Geschichte katapultiert Connor zurück in seine Kindheit, in einen dunklen, feuchten Kellerraum. Hier wartet er mit seinem imaginären Freund Eric darauf, dass sein Adoptivvater mit der Arbeit im oberen Stockwerk fertig wird. Als einzige Lichtquelle dient den beiden das kleine Konsolenspiel „Double Serpent“ – eine hungrige Schlange, die kleine, blinkende Pixel verschlingt bis sie so weit herangewachsen ist, dass sie den Rahmen des Bildschirms sprengen müsste. Doch sie beginnt damit, sich selbst aufzufressen.
Inszenierung: Ersan Mondtag
Bühne: Alexander Naumann
Kostüme: Teresa Vergho
Musik: Benedikt Brachtel
Video: Luis August Krawen
Licht: Rainer Casper/Steffen Hilbricht
Dramaturgie: Till Briegleb
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Zum Inhalt: In [EOL]. End of Life, DARUMs neuester, diesmal digitaler performativer Installation, schicken Victoria Halper und Kai Krösche ihr Publikum mittels Virtual-Reality-Brille in ein stillgelegtes Metaverse 1.0. Eine intensive und immersive Reise durch eine virtuelle Ruinenlandschaft, die uns mit der Frage konfrontiert, welche Spuren wir hinterlassen, wenn wir nicht mehr sind — und wer einmal künftig über unser digitales Erbe bestimmen wird.
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Zum Inhalt: Mutter und Sohn bewegen sich noch einmal durch ein gemeinsames Leben, durch ihr Deutschlandmärchen, das alles andere ist als ein Märchen. Auf der Suche nach Identität, Sprache und dem eigenen Platz kämpfen sich Fatma und Dinçer durch unerbittliche Verhältnisse, mit- und gegeneinander, zwischen tiefer Zuneigung und wütender Abrechnung.
Unser Deutschlandmärchen, das Romandebüt des 1979 in Nettetal geborenen Dinçer Güçyeter, das 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, verwebt Motive seiner Lebensgeschichte und der seiner Mutter, die in den 60er-Jahren als Gastarbeiterin aus der Türkei nach Deutschland kam. Regisseur Hakan Savaş Mican erzählt diese ungewöhnlich offene und berührende Familiengeschichte als eine lustvoll musikalische Reise. Zwei ungeheuer starke Menschen bewegen sich zwischen unerreichbaren Heimaten, durch ein Leben voller Sehnsüchte, geplatzter Träume, Wut und Liebe.
REGIE Hakan Savaş Mican BÜHNE Alissa Kolbusch VIDEO Sebastian Lempe KOSTÜME Sylvia Rieger KOMPOSITION Peer Neumann LIVEMUSIK Claire Cross, BEKİR KARAOĞLAN UND Peer Neumann, Cham Saloum SOWIE Ceren Bozkurt CHOREOGRAFIE Gioia Magelli LICHTDESIGN Carsten Sander DRAMATURGIE Clara Probst, Holger Kuhla
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Zum Inhalt: R: (am Telefon): Warst du denn jetzt beim Arzt? Darüber hast du mir nichts geschrieben. (…) Du musst da hingehen, was ist denn los mit dir, was machst du denn? (…) Wo bist du denn jetzt gerade? (…) Warst du denn bei der AOK? (…) Also du bist gerade nicht in der Verfassung zum Arzt zu gehen willst du sagen oder? (…) Wie lange hat denn der Chirurg auf, weißt du das, hast du das gesehen? (…) Oh man ey, man, man (…) Thomas, Thomas, hör mal zu, hi, hörst du mich? Also, ich bin jetzt doch früher zuhause als ich dachte, ich bin so 13:30 Uhr zuhause. Ich kuck jetzt mal, wie lange der Ullrich aufhat, ja? Du musst da noch hin, ich versteh nicht was du … Du denkst jetzt, du hast jetzt nen Verband und damit ist es getan, die haben dir doch gesagt, du musst dringend zum Chirurgen, die müssen dir den Finger aufschneiden. Nein hör auf, Thomas! Thomas! Du gehst da jetzt weg! Du hörst jetzt auf, du spinnst wohl, du hast doch nen Knall! Hör auf diese Anfälle zu kriegen, echt! (F kommt wieder) Du musst dich jetzt beruhigen! Du musst dich jetzt beruhigen! Ich bin in einer Stunde zuhause, ja? Ja? Hast du gehört? 13 Uhr 30 bin ich zuhause. Ja? Ok. Ja ok gut. Ok bis dann, ja? (Legt auf) Oh mein Gott, oh mein Gott. Der hat ne Blutvergiftung, der soll zum Chirurgen, er ist nicht gegangen!
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Zum Inhalt: Kim de l’Horizon hat in vielerlei Hinsicht eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahre geschrieben: „Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Blutbuch nach einer eigenen Sprache. Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht? Fixpunkt des Erzählens ist die eigene Großmutter, die ‚Großmeer‘ im Berndeutschen, in deren Ozean das Kind Kim zu ertrinken drohte und aus dem es sich jetzt schreibend freischwimmt.“ Mit diesen Worten verlieh die Jury 2022 den Deutschen Buchpreis, die wichtigste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur, an Kim de l’Horizon.
Kim de l’Horizon (*2666 auf Gethen) versuchte mit Nachwuchspreisen attention zu erringen. Heute hat Kim aber genug vom „Ich“, studiert Hexerei bei Starhawk und Transdisziplinarität an der Zürcher Hochschule der Künste.
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