Kritik
Im November 1949 starb der französische Boxer Marcel Cerdan bei einem Flugzeugabsturz. Weltmeistertitel im Mittelgewicht 1948 und 1949, im gleichen Jahr zum französischen Sportler des Jahres gekürt: er war auf der Höhe seiner Karriere, als er, nur 33 Jahre alt, so plötzlich verstarb. Und nun, siebzig Jahre später, im Renaissance Theater Berlin, hat mich sein Tod noch einmal so richtig erschüttert. Oder vielleicht eher die Reaktion der Piaf auf seinen Tod, denn Edith Piaf, der Spatz von Paris, war damals seine Freundin. Und sie war es auch gewesen, die ihn drängte ins Flugzeug zu steigen, statt die längere Schifffahrt zu unternehmen. So sehr sehnte sie sich nach ihm, nach ihrer großen Liebe. Als sie die Nachricht von seinem Unfalltod bekam, brach sie zusammen. Aber am selben Abend stand sie dann schon wieder auf der Bühne. Sie konnte nicht anders. Aber sie sang nur für ihn.
Wenn Vasiliki Roussi diese Szene auf der Bühne des Renaissance Theaters spielt, wenn sie für ihren Geliebten singt, ihre Stimme dabei bricht und ihre sehnsüchtigen Augen glasig von Tränen werden... dann kann man für einen kurzen Moment das gebrochene Herz der Piaf erahnen und schmerzlich miterleben.
Ein erschütternder, ein gewaltiger Abend, den man da seit Montag im Renaissance Theater Berlin erleben kann. "Spatz und Engel", die Geschichte der Freundschaft zwischen Edith Piaf und Marlene Dietrich. Zwei große Diven wie es sie heute gar nicht mehr gibt. Das Gossenkind und die kühle Blonde. Als sie sich kennenlernen, lebt die Dietrich in den USA im Exil, sie ist standhafte Nazigegnerin. Die Piaf ist in Amerika auf Tournee, hat allerdings noch nicht den erhofften Erfolg. Marlene greift ihr unter die Arme. Nutzt ihre eigene Bekanntheit, um Edith Piaf auch außerhalb Frankreichs berühmt zu machen. Und ist daher auch hautnah dabei, als Edith Marcel kennen und lieben lernt und auch, als sie ihn dann so tragisch verliert.
Zeit ihres Lebens wird Marlene Edith lieben. Bis zu ihrem Tod 1992 trägt sie einen Zettel bei sich, auf den Edith einst schrieb: Marlene, vergiß nie, dass ich dich liebe. Aber gegen Ediths Dämonen kommt Marlene nicht an. Weder kann sie die jüngere Frau vor ihren vielfältigen und oftmals katastrophalen Affären schützen, noch vor deren ausufernden Süchten. Mit nur 48 Jahren stirbt Edith Piaf im Jahr 1963, nur wenige Jahre, nachdem sie sich selbst mit dem Lied "Non, je ne regrette rien" unsterblich machte.
Anika Mauer spielt die schlaue, kühle, selbstbewusste Grand Dame Marlene Dietrich, die nur in kurzen Momenten mit "ihrem Spatz" mal ganz zärtlich und weich erscheinen kann. Sie rockt die Outfits, in denen man die Dietrich in Erinnerung hat: den schmal geschnitten Smoking, die große, glitzerglänzende Robe. Und natürlich singt sie auch, mit dieser langsamen, rauchigen Art, die Marlene zu eigen war und die einen immer glauben ließ, sie würde einem direkt ins Ohr hauchen. Der Anti- Kriegssong "Sag mir wo die Blumen sind" ist ein weiterer Höhepunkt eines wunderbaren und herzergreifenden Abends.
Aber natürlich ist sie es, die dem Publikum in den Brustkorb greift und das Herz berührt und dann schmerzhaft zusammenquetscht: Vasiliki Roussi , die sich als Edith Piaf verausgabt. Sie lebt und atmet deren tragischen Sturz vom Weltstar zum Wrack. Wenn sie singt, mit Herz und Seele, dann könnte man eine Stecknadel fallen hören im Zuschauerraum. Ein tragisch-schöner Abend!
Nicole Haarhoff