Das Bühnenstück "Heilig Abend" des 1975 geborenen deutsch-österreichischen Schriftstellers Daniel Kehlmann wurde 2017 veröffentlicht und im Wiener Theater in der Josefstadt uraufgeführt. Das Berliner Gastspiel kam in Kooperation mit der Konzertdirektion Landgraf GmbH zustande, einem seit 1945 bestehenden Tourneetheater-Spezialisten mit Sitz in Titisee-Neustadt. Regie führte Jakob Fedler, die Ausstattung besorgte Dorien Thomsen.
Das Stück ist ein sehr konzentriertes Kammerspiel. Es geschieht an einem 24. Dezember und setzt an diesem Abend um 22.30 Uhr ein. Das Bühnenbild signalisiert einen kargen Verhörraum, in dessen Rückwand drei schmale Türen eingelassen sind, die in irgendwelche nicht einsehbaren Nebenräume führen. Rechts und links fünf etwas befremdlich wirkende Leuchtsäulen, die zu unregelmäßigen Zeiten aufleuchten. An der Wand noch ein Waschbecken, an Mobiliar nur ein asketischer Schreibtischstuhl mit Rückenstütze sowie ein Festnetz-Telefon.
Der Vernehmungsbeamte Thomas (Wanja Mues) betritt den Raum und orientiert sich ausgiebig über die Gegebenheiten. Er projiziert die aktuelle Uhrzeit auf die Rückwand des Raums. Dann setzt er sich sich auf den Stuhl und wartet. Anschließend betritt Judith (Jacqueline Macaulay) den Raum. Das inquisitorische Duell beginnt, das zum Anfang in seiner vagen Unbestimmtheit an die Verhörpraktiken bei Kafka erinnert. Thomas setzt mit scheinbar ganz unverfänglichen Fragen ein und will von Judith zunächst wissen, wo sie am Vorabend gewesen ist und was sie am Vortag getan hat. Sie gibt an, den Vortag mit ihrem Ex-Mann verbracht zu haben.
Allmählich steigert sich die Intensität seiner Befragung, und er beginnt, Vorwürfe zu formulieren und in Art einer Attacke vorzutragen. Von härteren Befragungstechniken ist die Rede, sogar der Einsatz der Folter wird angesprochen. Judith, die Philosophieprofessorin, soll auf ihrem häuslichen Laptop Attentatspläne notiert haben. Sie streitet das zunächst ab, gibt an, keine Ahnung vom Bombenbau und irgendwelchen Tatabsichten zu haben. Während diese Szenen auf der Bühne ablaufen, wird anderswo im Geheimdienstbau der Ex-Mann von Judith verhört, und er belastet Judith mit seinen Aussagen. Ihr wird klar, daß sie nun selbst ein Geständnis ablegen muß, damit ihr Ex-Mann freikommt, mit dem sie nach wie vor ein unverbrüchliches Liebesverhältnis hat. Thomas stellt ihr einen Telefonanruf frei, und sie ruft das Mobiltelefon ihres Mannes an, wechselt nur kurze Worte.
Ihr Mann, so erfährt man, hat anschließend sein Handy weggeworfen, um nicht geortet werden zu können.
Die Zeit bis Mitternacht ist um, das Vernehmungslicht erlischt, und der Zuschauer ist allein mit der Frage, was danach mit Thomas und Judith geschieht. Der Autor hat diese Frage bewußt offen gelassen - es gibt demnach weder Sieger noch Besiegte.
Das Publikum im Premieren-Parkett folgt dem intellektuell anspruchsvollen Dialog von Thomas und Judith mit gespannter Aufmerksamkeit und belohnt die schauspielerischen Leistungen mit anhaltendem Schlußbeifall.
Horst Rödiger
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