Zum Inhalt: Es ist (fast) kein Wort zu hören, aber alles zu sehen. Timofej Kuljabins Drei Schwestern ist eine, im Wortsinn, unerhörte Arbeit! Unerhört ist sie, weil die Darsteller_innen, mit Ausnahme einer Figur, nicht im herkömmlichen Sinne miteinander sprechen, sondern sich in Gebärdensprache unterhalten, mit deutschen und englischen Übertiteln für das Publikum. Kuljabin, Jahrgang 1984, einer der aufregendsten jungen Regisseure Russlands, zeigt die Tschechow-Welt und spielt mit ihr, ohne sie zu verraten. Die Schauspieler_innen spielen expressiv und psychologisch, realistisch zugleich. Durch die Körperlichkeit ihres Spiels erhöht sich die Dringlichkeit der Darstellung – ganz im Sinne Tschechows. Kuljabin zeigt, mit je einer neuen Grundfarbe für jeden der vier Akte, eine Sehnsucht, ein Unbehagen, ein Unzuhausesein und einen Schmerz, die gerade, weil sie sich nicht herkömmlich in Worte fassen, den ganzen Körper, den ganzen Menschen ergreifen.
Nach gefeierten Gastspielen in Wien und Paris kommt Timofej Kuljabin mit seinen Drei Schwestern vom "Krasnyi Fackel" ("Rote Fackel") Theater Nowosibirsk nun an das Deutsche Theater Berlin.
''Am bezauberndsten gelingt der erste Akt. Da bekommt Irina zum Namenstag den berühmten Brummkreisel geschenkt. Wenn er auf dem Tisch seine bunten Runden dreht, legt die Gesellschaft wie auf Kommando den Kopf auf den Tisch, um dem Surren zu lauschen. Ein wunderbar poetisches Bild. Auch die rabiaten Annäherungsversuche des Arztes, vor dessen Liebeserklärungen Irina verzweifelt in den Kleiderschrank flieht, berühren. Nicht sehen – das bedeutet hier, nicht hören müssen.
Doch umso länger der Abend dauert, desto mehr entwickelt sich das Spiel zu konventionellem russischem Theater. Als kehrten die Spieler immer mehr in ihre eigene Welt zurück. Ein ganz neuer Blick auf das Drama, wie ihn die Wiener und Pariser Presse beschreibt, will sich nicht eröffnen. Der stehende Applaus des Publikums ist trotzdem nur allzu nachvollziehbar – der vom Konzept- und Diskurstheater geplagte Berliner atmet auf, wenn er endlich einmal wieder Menschen auf der Bühne sehen darf. Zu Recht.'' schreibt Barbara Behrendt aud kulturradio.de
Am Bühnenbild von Oleg Golowko hätte Peter Stein seine helle Freude. Die Wohnstube der Familie Prosorow ist so naturalistisch eingerichtet, dass nur noch der Birkenwald fehlt, um die Nostalgie perfekt zu machen.
Das Drama entfaltet sich mit all den berühmten Sentenzen und mit zwei Gegenpolen im Zentrum: Daria Jemeljanowa als Weltschmerz ausstrahlende, nur kurz aufblühende Mascha, die mit ihrer Trillerpfeife ein strenges Regiment führt, und Linda Ahmetzjanowa als quecksilbrige Irina, die optisch und auch in ihrer Spielweise etwas an Kathrin Angerer erinnert und sich ebenso sehr nach den Videos von Miley Cyrus wie nach Moskau sehnt.
Bemerkenswert ist, dass der Regisseur fast komplett auf das gesprochene Wort verzichtet. Die Spieler*innen verständigen sich in russischer Gebärdensprache, die Galina Nischuk mit ihnen einstudiert hat. Ihre Dialoge werden auf Deutsch und Englisch an die Bühnenrückwand projiziert. Sein Ziel, dass der Tschechow-Klassiker damit eine höhere Dringlichkeit bekommt, hat Kuljabin aus meiner Sicht nicht erreicht. Langatmig statt melancholisch zieht sich der Abend, schon nach der ersten von drei Pausen bröckelt die Besucher*innenzahl sichtlich.
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