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Nathan der Weise

Bewertung und Kritik zu

NATHAN DER WEISE 
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Ulrich Rasche 
Premiere: 28. Juli 2023 
Salzburger Festspiele

Eingeladen zum 61. Berliner Theatertreffen (2024) 
 

Zum Inhalt: Nathan der Weise, Lessings letztes und mit Sicherheit berühmtestes Stück, ist die Geschichte eines Scheiterns. In einer von Ab- und Ausgrenzungen bestimmten Gesellschaft im Kriegszustand, dem Jerusalem des Dritten Kreuzzugs, wird ein reicher jüdischer Kaufmann vor den Sultan gerufen, der dringend seine Kriegskasse auffüllen muss. Um festzustellen, ob Nathan dem muslimischen Kriegsherrn „freiwillig“ Geld zu leihen bereit ist oder ob man ihm sein „Gut und Blut“ mit Gewalt nehmen muss, legt ihm der Herrscher die Frage vor, welche der drei monotheistischen Religionen die „wahre“ sei. Nathan antwortet mit der berühmten Parabel von den drei Ringen, mit denen ein unschlüssiger Vater seine drei Söhne unabhängig voneinander als den ihm liebsten auszeichnet. Die Pointe des „Märchens“ besteht darin, dass wohl keiner der drei Ringe der echte, „wahre“ ist. Alle drei Religionen sind in diesem einen Punkt ununterscheidbar — in ihrer Entfernung von und ihrem Streben nach der Wahrheit. Die Geschichte ist ein Erfolg und der Sultan tief beeindruckt. Nathan „darf“ ihm daraufhin den zur Fortführung des Krieges dringend benötigten Kredit anbieten.

Die Erfahrung, die Nathan im weiteren Verlauf macht, ist allerdings eine andere. Im Konflikt um seine christlich getaufte und von ihm jüdisch erzogene Ziehtochter Recha vermitteln nicht Toleranz und gegenseitige Anerkennung zwischen den Ansprüchen der verschiedenen Religionen. Vielmehr müssen zufällige familiäre Verbindungen zwischen ihr, dem christlichen Tempelherrn und dem muslimischen Sultan für Versöhnung sorgen. Es ist keine Menschheitsfamilie, die sich da findet, denn der Jude gehört (wieder einmal) nicht dazu. Was die komplizierte Familienzusammenführung allerdings mit sich bringt, ist eine fundamentale Verunsicherung der Identitäten: Kaum eine der Hauptfiguren ist am Ende des Stückes noch die, die sie am Beginn zu sein glaubte. Diese Unsicherheit enthält ein starkes Argument gegen die nun als zufällig ausgewiesenen Ab- und Ausgrenzungen des Anfangs. Es hilft aber Nathan offensichtlich nicht, dessen Erzählung von den drei Ringen im Verlauf des Dramas ohne weitere Folgen bleibt.

Regie und Bühne: Ulrich Rasche
Komposition: Nico van Wersch
Kostüme: Sara Schwartz
Chorleitung: Toni Jessen
Licht: Alon Cohen
Sounddesign: Raimund Hornich
Mitarbeit Bühne: Manuel La Casta
Dramaturgie: Sebastian Huber

 

3.5 von 5 Sterne
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Gegen den Chor der Intoleranz anlaufen
1 Jahr her.
Kritik

''Beeindruckend ist auch wie immer das Zusammenspiel von rhythmisch aufgesagtem Text, zu dem sich das Schauspielensemble gegen die Drehrichtung der Bühne bewegt, und der sie begleitenden, von Nico van Wersch komponierten Musik. Ein kleines Orchester von fünf MusikerInnen an Bass, Keyboard und Schlaginstrumenten unterlegt den Text mit einem unterschwelligen, dann aber wieder Spannung aufbauenden Soundteppich. Die Inszenierung fokussiert hier ganz konzentriert auf Lessings im Blankvers geschriebenen Text, der trotz seiner antiquierten Sprache gut verständlich bleibt. Ein typisches Rasche-Überwältigungs-Gesamtkunstwerk, das trotz zurückgenommener Intensität mit seinen 4 Stunden und einer Pause dem Publikum auch viel an Durchhaltevermögen abverlangt.

Eine weitere Besonderheit der Inszenierung ist, dass Rasche den Nathan mit einer Schauspielerin besetzt hat. Valery Tscheplanowa ist relativ kurzfristig für die erkrankte Judith Engel eingesprungen. Das bemerkt man aber keine Sekunde. Ein Glücksgriff, der die Inszenierung zusätzlich von unnützem Diskursballast über alte weiße und/ oder weise Männer befreit. Zum Ereignis wird, wie sich Tscheplanowas Nathan und der von Nicola Mastroberardino dargestellte Saladin lauernd umkreisen. Aus zunächst unterlegener Konstellation gewinnt der umsichtige Nathan durch seine kluge Überzeugungskunst mit der Ringparabel die Zuneigung des sichtlich verblüfften Sultans. Auch in weiteren Dialogen mit dem ins Zweifeln über seine Glaubensvorurteile kommenden jungen Tempelherrn (Mehmet Ateşçi) wirkt diese Kraft der überlegt gebrauchten Worte.'' schreibt p. k. am 5. August 2023 auf KULTURA-EXTRA

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Tscheplanowa, Atesçi und Zilcher prägen Rasches Drehbühnen-Exerzitien
1 Jahr her.
Kritik

Vor allem drei Ensemble-Mitglieder prägen diesen „Nathan der Weise“ auf ihre eigene Weise. Allen voran natürlich Valery Tscheplanowa in der Titelrolle, der die Kritiker von SZ bis FAZ zu Füßen lagen. Wenige Wochen vor der Premiere sprang sie für Judith Engel ein und meistert diesen Part mit Knopf im Ohr mit einer so bravourösen Selbstverständlichkeit, dass man fast nicht glauben kann, dass die Besetzungsliste je anders geplant war.

Tscheplanowa ist eine Rasche-Spielerin par excellence: mit ihrem ganz eigenen Mix aus filigranen Bewegungen und Stimmgewalt glänzte sie schon in zwei seiner stärksten Arbeiten, die bereits erwähnten „Räuber“, mit denen er 2017 seinen Durchbruch feierte, und „Die Perser“, die vor fünf Jahren in Salzburg Premiere hatten. In einem Abend, der mit vier Stunden deutlich zu lang ist, setzt sie starke Akzente: zu nennen sind hier vor allem die berühmte „Ringparabel“ vor der Pause, in der Nathan die Gleichrangigkeit der Weltreligionen und das Toleranzprinzip gegen den Fundamentalismus und Eiferer verteidigt, und ihr  „Zu Hilfe! Zu Hilfe!“-Schlusswort.

Es wäre schön, wenn es nicht bei einem kurzen Theaterbühnen-Gastspiel von Tscheplanowa bliebe, die nach Castorfs Volksbühnen-Abschieds-„Faust“ und ihrem Salzburger „Buhlschaft“-Auftritt 2018 verkündete, dass sie sich auf den Film konzentrieren will. Bleibende Spuren hat sie in den vergangenen Jahren dort jedoch nicht hinterlassen, ihre Filmografie beschränkt sich fast nur auf TV-Produktionen und Nischen-Kino-Filme wie „Echo“, das in der gerade eingestellten Berlinale-Nebenreihe „Perspektive Deutsches Kino“ lief. Vielleicht ist der Jubel für ihren „Nathan“ der Grundstein für ein von vielen ersehntes Theater-Comeback von Valery Tscheplanowa.

Sein Rasche-Debüt gibt als Tempelherr Mehmet Ateşçi, der vom Gorki Theater über das Burgtheater ans Schauspielhaus Hamburg wanderte. Mit raubkatzenhafter Eleganz schleicht er wie Rilkes Panther über die Drehbühne: lauernd gibt er die Grundstimmung für den antisemitischen Mob vor, der Nathan bedroht. Diese Gegenpositionen zur aufklärerischen Doktrin Lessings verstärken Rasche und sein Dramaturg Sebastian Huber mit antisemitischen Fremdtext-Schnipseln von Zeitgenossen wie Fichte und Voltaire, die das Programmheft in ausführlichen Essays und Interviews einordnet.

Eine kleine Rolle, aber mit starker Präsenz hat Almut Zilcher, die nach dem clownesken König Popo in Rasches „Leonce und Lena“ am Deutschen Theater Berlin wieder als Sitta, Schwester des Sultans (Nicola Mastroberardino) dabei ist. Mit Tscheplanowa hat sie gemeinsam, dass Dimiter Gottscheff ein prägender Regisseur ihrer Theaterbiographie war und dass sie mit ihrer Sprachgewalt schnell zum Mittelpunkt der jeweiligen Szene wird.

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