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Schauspiel Leipzig
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Winterreise / Winterreise

Bewertung und Kritik zu

WINTERREISE / WINTERREISE
von Wilhelm Müller & Franz Schubert / Elfriede Jelinek
Regie: Enrico Lübbe 
Premiere: 25. September 2020
Schauspiel Leipzig 

Zum Inhalt: Aus und vorbei. Eine Liebe ist aus, das Leben ist vorbei. So fühlt es sich zumindest an für das Ich, das in der „Winterreise“ fluchtartig die Stadt und das bisherige Leben verlassen muss. Ob es eine freiwillige oder gezwungene Flucht ist, wird nicht ganz klar. Klar ist nur: Es ist quasi über Nacht vorbei, was eben noch eine Liebe war und eine Zukunft. Wut wechselt sich ab mit Ohnmacht und mit Erinnerung. Klar ist auch, dass es Winter ist. Draußen in der Natur — und drinnen in den Seelen.
Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“, 1827 komponiert auf Wilhelm Müllers Gedichte aus dem Jahr 1824, ist die so existenzielle wie subjektive Erkundung einer erschütterten Existenz. Generationen von Sängern und mehr und mehr auch Sängerinnen haben diesen Liederzyklus immer wieder neu interpretiert. Auch Elfriede Jelinek hat im Jahr 2011 den Kosmos der „Winterreise“ neu befragt und ins Heute gezogen. In einem ihrer leisesten und poetischsten Werke, mit den Texten Wilhelm Müllers als Wegweiser, durchwandert sie Stationen der Sehnsucht in der gegenwärtigen Welt.
Jelineks „Winterreise“ führt durch eine Gesellschaft, deren Öffentlichkeit sich auf dem Marktplatz der sozialen Medien vollzieht, in der sich Ver- und Entlieben auf digitalen Portalen wie Tinder, Grindr & Co. ereignet. Ihr Text erzählt vom Allein-sein-Wollen und vom Allein-sein-Müssen, von der fremdbestimmten Entwurzelung bis zur selbstbestimmten Weltflucht aus Unbehagen an der Gemeinschaft.
Jelineks „Winterreise“ ist nicht mehr nur die Erfahrung eines Ichs, der Text ist voller Stimmen, angeführt von ihrer eigenen. Aber auch in einem großen Stimmengewirr kann jede und jeder Einzelne genauso vergeblich emotionalen Widerhall suchen. Dafür muss man heute nicht mehr durch kalte Winterwälder laufen, dafür reicht ein Smartphone mit Flatrate.

Mit Julius Forster, Ellen Hellwig, Franziska Hiller, Jürg Kienberger, Tilo Krügel, Denis Petković, Jule Roßberg, Miloslav Prusak, Julia Berke

Regie: Enrico Lübbe
Bühne: Etienne Pluss
Kostüme: Bianca Deigner
Musikalische Leitung: Jürg Kienberger
Korrepetition und Bühnenmusik: Franziska Kuba, Philip Frischkorn
Dramaturgie: Torsten Buß
Licht: Ralf Riechert

3.0 von 5 Sterne
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Melancholie und Verlorenheit
4 Jahre her.
Kritik
''Schuberts Leiermann-Lied, das Elfriede Jelinek zur Reflexion des eigenen vergeblichen Schreibens („immer die gleiche Leier“) inspirierte, steht ganz am Anfang bei noch geschlossenem Gazevorhang, auf den Bilder von Wanderern im Schneegebirge projiziert werden. Tilo Krügel als Umherirrender gibt dann die Passagen, in denen Jelinek u.a. Heideggers Seins-Theorien verhandelt. Geworfen sind hier irgendwie alle, auch gebeutelt von Winden, denen sich die kleine, aus der Zeit gefallene Seilschaft entgegenstemmt. Dazu wird chorisch Das Wirtshaus („Auf einem Totenacker…“) oder Die Wetterfahne gesungen. Wenn aus dem Tale der Hüttenhit "Hurra die Gams" wummert, wird oben mit einem zarten "Am Brunnen vor dem Tore" dagegen gehalten. Die Melancholie der Texte und Lieder lässt Lübbe mit Slapstickeinlagen, Telefonklingeln und einem kauderwelschenden Kofferträger (Miloslav Prusak) als Running Gag brechen. Aber auch das verstärkt nur die marthalernde Wirkung. Einen großen Auftritt hat zumindest noch Julia Berke mit einem Text über die Schwierigkeit beim Orgelstudium und den Zusammenhang von Musik, Zeit und Raum. Ihr im Stakkato wiederholtes Fazit lautet: „Rhythmisch bleiben!“ Anderes klingt dann doch schon etwas beliebig aus dem Zusammenhang gerissen. Jule Roßberg spricht über die Verfügbarkeit in den Online-Netzwerken, und Denis Petković philosophiert über die Technik, die Zeit und das Sein. Dazu gibt es Die Nebensonnen, wobei alle VR-Brillen tragen, oder das Wegweiser-Lied, obschon dieser Inszenierung so langsam Richtung und Ziel verlorengegangen scheinen. Final läuft es auf den Monolog von Ellen Hellwig, der 74jährigen Grande Dame des Schauspiel Leipzig zu. Ein halbstündiges Sinnieren eines alten Mannes, dessen Verstand verschwindet und mit dem Jelinek ihren dementen Vater meint. Ein letztes Aufbäumen gegen das Vergessen und Verdrängen aus der Zeit. Kienberger begleitet sie dabei zart auf der Glasharfe. Solche bemerkenswerten Einzelleistungen gab es auch in anderen Inszenierungen von Jelineks Winterreise. Der starke Schlusspunkt eines ansonsten recht unentschiedenen Abends.'' schreibt Stefan Bock am 29. September 2020 auf KULTURA-EXTRA
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