Dies ist ein Stück über das Verblassen. Und das Loslassen. Über das Unsichtbarwerden und Unsichtbarmachen. Das neue Stück der Costa Compagnie mit dem (leider etwas sperrigen) Titel „Between Worlds – Global Tales of Outsourcing Dementia Care“, das am vergangenen Donnerstag in Berlin im Ballhaus Ost uraufgeführt wurde, verwebt dokumentarischen Film mit performativen und essayistisch-narrativen Elementen zu einer dichten Erzählung über die persönlichen Schicksale von Demenz-Patient*innen und ihren Angehörigen.
Dabei bleibt es aber nicht. Die emotionale Betroffenheit durch die Einzelschicksale schert zur Systemkritik aus, die dominante kapitalistische und patriarchale Logiken bloßstellt.
Zunächst einmal aber – Der Anfang:
Ein Schweizer Manager gründet eine Pflegeeinrichtung für Demenzerkrankte im Norden von Thailand. Er hat selbst hat einen Fall von Alzheimer in der Familie. Das „Care Resort“ hat einen Außenpool, die Zuwege sind gepflegt, die Rasenflächen getrimmt und von Palmenpflanzen gesäumt. Kranke aus Europa und Nordamerika werden von ihren Angehörigen ins „Vivo Bene“ gebracht, um zu erhalten, was die Gesundheitssysteme des globalen Nordens nicht leisten: ein gutes Leben mit Rundumbetreuung, eine angemessene Versorgung. Auch die Familien der Demenzkranken sollen entlastet werden – finanziell und von den körperlichen und psychischen Strapazen, die die Pflegearbeit mit sich bringt. Ist das moralisch vertretbar? Aus Managerperspektive: eine Win-Win-Situation. Für die Betroffenen. Für die Gesundheitssysteme des Westens. Für Thailand. Immerhin liegt der Lohn der Pflegerinnen 20 Prozent über dem thailändischen Durchschnitt. Alle gewinnen.
Für Kate Davies, die ihren Ehemann Nigel wegen der unzumutbaren Pflegezustände in Großbritannien im Vivo Bene untergebracht hat, ist es hingegen eine tiefgreifende Verlusterfahrung. Zunächst konnte sich Nigel nicht mehr an die richtige Abzweigung zum Strand erinnern. Später gab er seine Leidenschaft für das Filmeschauen auf, weil er in der Mitte einer Geschichte schon ihren Anfang vergessen hatte. Jetzt spielt er mit seinen Pflegerinnen Federball – er in weißen Leinenhosen, sie mit Häubchen auf den Köpfen. Eine unwirkliche Szene, absurd fast. Es gibt da diesen alten XTC Song: „We're only making plans for Nigel / We only want what's best for him / We're only making plans for Nigel / Nigel just needs that helping hand / And if young Nigel says he's happy / He must be happy / He must be happy / He must be happy in his world.”
Kate schaut aus milchigen Augen in die Kamera und erzählt von der Auslöschung ihres Ehemanns, der sich nicht mehr daran erinnern kann, wer sie ist, wenn sie sich von ihm verabschiedet und zurück nach England fliegt.
Die Performer*innen des Stücks, Irene Laochaisri, David Pallant und Anna Rot, treten in den Dialog mit dem dokumentarischen Material, stellen unbequeme Fragen, versuchen, die Perspektiven der Akteur*innen „vorstellbar“ zu machen. Und erzählen von ihrem persönlichen Umgang mit Dem Krankheitsbild Demenz. So gesteht Anna, dass sie es wahnsinnig komisch fand, als ihre Großmutter ihr einen „Kifu“ anbot, weil diese die Worte nicht mehr fand. Oder wie verärgert ebendiese Großmutter war, als Anna sie fragte: „Bist du verwirrt?“ Es ist ein so ehrlicher Moment. Wie damit umgehen, wenn mit dem Gegenüber etwas „nicht stimmt“?
In den westlichen Gesellschaften, in denen die Selbstoptimierung zum Fetisch geworden und das „Funktionieren“ religiöse Ordnungsmuster substituiert, treibt das Abhandenkommen der geistigen Orientierung – der Kontrollverlust – in die soziale Isolation. Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem, insbesondere in seiner neoliberalen Ausprägung, zwingt durch die Ungleichverteilung von finanziellen, sozialen und politischen Ressourcen zum Funktionieren. Was aber ist uns das Leben in Würde wert? Pflegeberufe sind unterbezahlt und finden wenig Anerkennung. Strukturell immanent ist diesem System übrigens auch die Geschlechterfrage, denn „Care-Arbeit“ – also unbezahlte Pfegetätigkeiten, Hausarbeit und Kinderbetreuung - wird zum allergrößten Teil von Frauen erledigt. Auch ist es eine Frage der globalen Gerechtigkeit, denn damit die Bevölkerung westlicher Gesellschaften „funktionieren“ und „optimieren“ kann, stellt sie für diese Tätigkeiten Menschen aus dem globalen Süden an –zu unmöglichen finanziellen Konditionen.
Oder die Kranken werden eben ausgelagert – nach Thailand zum Beispiel.
Für diese Form der Auslagerung prägt der französische Soziologe und Philosoph Michel Foucault in den 60er Jahren den Begriff „Heterotopie“: das sind Nicht-Orte am Rande der Gesellschaft, an die von der Norm abweichende Menschen ausgesondert werden können, um so das Bestehen der Normalgesellschaft zu stabilisieren und weiterhin zu gewährleisten. Beispiele sind etwa Gefängnisse, psychiatrische Kliniken und Alten- und Pflegeheime.
Ein Demenzpatient in „Between Worlds“ erzählt, dass er ein „ungeliebter Großvater“ ist, der von seiner Familie nicht mehr gebraucht werde und deshalb abgeschoben worden sei. Er sei froh, jetzt bei Vivo Bene zu sein, denn hier werde er gebraucht. Diese Momente der Klarheit bei den Patient*innen sind es, die einen erkennen lassen, wie man den Kranken automatisch das Menschsein abspricht. Denn, so der Irrtum, wo kein Bewusstsein, da kein Schmerz. Aber der Schmerz ist da und das Stück bringt ihn immer wieder an die Oberfläche. Es zwingt uns hinzuschauen und zuzuhören. Zum Beispiel Jack, der seine Frau Trudy für die Größte hält, unablässig Lobeshymnen auf ihre Stärke und Klugheit anstimmt und darüber zum Publikumsliebling emporkommt. Er provoziert herzliche Lacher, die einem bisweilen im Hals stecken bleiben, sobald man bemerkt, dass er außer über Trudy, keine zusammenhängenden Aussagen mehr treffen kann. Das Stück zeigt diese Szenen in voller Länge. Wir sollen Jack zuhören, auch wenn es unangenehm wird. So wird den Unsichtbaren wieder Sichtbarkeit verliehen. Zumindest für einen kurzen Augenblick im Ballhaus Ost.
„Between Worlds“ will viel. Und gelegentliche Überforderung mit all den Themen und Zusammenhängen kann eine Nebenwirkung des etwa 120 Minuten langen Stücks sein. Das ist verzeihlich, denn wichtiger ist es, der Komplexität des Problems nicht ignorant gegenüberzutreten. Um die Systemfrage kommt man bei diesem Stück dabei nicht herum.