Kritik
''Orest in Mossul wird so als komplexes Real-Theater, realistisches Erzähltheater oder theatralische Reflexion dargeboten und wirft einen neuen, moderneren Blick auf die griechische Tragödie. Susana AbdulMajid, die die Kassandra spielt, erklärt, sie habe irakische Wurzeln, denn ihre Mutter komme aus Mossul und ihr Vater aus dem Süden des Irak. Sie beschreibt Mossul als eine der ältesten Städte der Menschheit, die seit 7.000 Jahren (also schon vor der Zerstörung von Troja) durchgehend bewohnt war.
Insbesondere die sehr realistisch dargestellten Gewaltszenen lassen einen als Zuschauer mitunter frösteln. So wird etwa die verschleierte Baraa Ali in der Rolle der Iphigenie nach einem längeren Monolog grausam erdrosselt. Das Tribunal am Ende der Orestie wurde zweimal, am Anfang und am Ende der Proben in Mossul, wiederholt. Athene wird hier ausdrucksstark durch Khitam Idris Gamil verkörpert, deren Mann von Al-Quaida exekutiert wurde, da er kein Schutzgeld zahlen wollte. Die irakischen Schauspieler wurden gefragt, ob sie den Mördern ihrer Familie verzeihen können oder ihnen die Todesstrafe auferlegen würden. Beide Male ist es für die Schauspieler undenkbar, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen und ehemaligen IS-Kämpfern einfach zu verzeihen.
Die Gewalttätigkeit und Brutalität, die den kriegerischen Auseinandersetzungen des Terrorregimes zu eigen ist, wird den Zuschauern durch die dokumentarischen Bilder und die persönlichen Geschichten sehr direkt nahegebracht. In der Antike sind die Figuren noch dem Gesetz der Götter und damit ihrem ganz persönlichen Schicksal ausgeliefert. Gegenwärtig beruft sich der IS auf Allah, wenn er grausamste Verbrechen begeht. Aber auch für den aufgeklärten Menschen stellt sich das Geschehen der letzten Jahre als nahezu ausweglos dar: aufgehetzte Gruppierungen, Warlords, Interessen größerer Hegemonialmächte an kostbaren Ölfeldern und Raffinerien, skrupellose Waffenhändler (und –hersteller!) führen zu einem schier endlosen Krieg. Das in der heutigen Zeit mit dieser antiken Handlung beschrieben zu sehen macht den eigentlichen Wert dieser Inszenierung aus.'' schreibt
Ansgar Skoda am 6. Juni 2019 auf
KULTURA-EXTRA