Selbst im Kreis illustrer Opernpremieren ist eine Uraufführung stets etwas Besonderes. Seit Monaten hat die Deutsche Oper Berlin ein solches Ereignis mit größter Sorgfalt vorbereitet, um es nun präsentieren zu können. Ort und Zeit der Handlung sind das englische Mittelalter des 14. Jahrhunderts. Wer aber nur einen Bilderbogen aus fernliegender, finsterer Frühgeschichte erwartet hatte, sah sich angenehm getäuscht.
Die Historie des englischen Mittelalters zur Zeit Edwards II. liefert hier vor allem Vorwand und Rahmen. Geboten wird in Wahrheit eine intelligente Szenenfolge über offene und verkappte männliche Homosexualität, ihre Überlagerung mit Machtspielen und die wesentlichen Kampfparolen ihrer Gegner. Ungeachtet einzelner burlesker szenischer Elemente geschieht dies alles sehr ernsthaft und mit zwingender Verknüpfung zu grundsätzlichen philosophischen Fragestellungen. Dabei ist die Darstellung nie trocken und hat unmittelbaren szenischen Reiz.
Warum nun dieser Griff in eine auf den ersten Blick reichlich weit entfernte Epoche der Geschichte ? Leitfossil dieser Ausgrabungsexpedition ist der englische König Edward II., der von 1307 bis 1327 regierte und ein reichlich umstrittener Herrscher war, der schließlich unter dem Druck seiner Gegner auf den Thron verzichten mußte. Ganz nebenbei stand ihm sein Günstling Piers de Gaveston näher als seine Ehefrau Isabella, die sich stattdessen dem Höfling Roger Mortimer hingab. Was lag also näher, als dass die Homosexuellenbewegung auf der Suche nach einem vorbildhaften Märtyrer auf Edward II. stieß - die umgebende Szenerie aus Kirche, Adel und Volk und ein zeittypisch hoher Level grausamer Folter- und Hinrichtungsmethoden liefern Material genug für einen in vieler Hinsicht lehrreichen Bilderbogen.
Thomas Jonigk schreibt ein intelligentes Libretto, das die einzelnen Szenen samt naheliegenden Gedankenverknüpfungen bildkräftig herausarbeitet. Die Musik von Andrea Lorenzo Scartazzini enthält gewiss keine Motive, die man später zu Hause nachpfeift. Sie ist aber überaus illustrativ, unterstreicht den szenischen Gehalt und kennt ausser dramatischem Schlagzeugeinsatz auch leise, besinnliche Töne, die beeindrucken. Mit dem Regisseur Christoph Loy wurde ein Inszenator gefunden, der in dem gothisierenden Bühnenbild von Annette Kurz eine fesselnde Folge von Auftritten mit hervorragend stilisierten Personen ansiedelt, die von dem immerwährenden Antagonismus zwischen Individuum und Masse berichten.
Den Titelhelden singt Michael Nagy mit kraftvollem Bariton, ein zwiespältiger Charakter mit schroff wechselnden Stimmungen. Seinem Liebling Gaveston gibt der tschechische Tenor Ladislav Elgr hingebungsvolle Stimme und belebende Jugendlichkeit. Königin Isabella ist die Schwedin Agneta Eichenholz - ein strahlender, markanter Sopran von zwingender szenischer Präsenz. Ihr Liebhaber Roger Mortimer ist Andrew Harris, ein betont männlich auftretender Bass mit markantem Erscheinungsbild. Den Bischof von Coventry, der ungeachtet seiner giftigen Kanzelreden selbst auf sexuelle Eigenart Wert legt, singt der Tenor Burkhard Ulrich, vorbildlich klar artikulierend. Ein Duo der besonderen Art bilden Markus Brück (Bariton) und Gideon Poppe (Tenor), die sowohl als Geistliche wie in stilgerechter Schwulenkluft pointierte szenische Akzente setzen. Eine ganz besondere Charakterstudie liefert der Tenor James Kryshak als cooler Auftragsmörder, eine Figur, wie man sie aus dem KZ-Personal kennt. Der Bariton Jarrett Ott gibt mit imposanter Statur und einer sehr wandlungsfähigen Stimme den nur für Edward sichtbaren Engel, eine tröstliche innere Stimme mit philosophischer Hilfestellung im Angesicht des Todes. In der Knabenrolle des jungen Prinzen, der seinem Vater als Edward III. auf dem Thron folgen wird, spricht und singt sich Mattis van Hasselt beherzt durch seine Partie. Am Schluss haben der Chor (Einstudierung Raymond Hughes)und die Statisterie noch einen großen Auftritt als Touristengruppe im Museum, die staunend und kopfschüttelnd den Erläuterungen zu historischen Figuren lauscht.
Am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin lenkt Thomas Søndergard mit präziser Zeichengabe die Aufführung, in der zahlreiche virtuose Schlagzeugeinsätze und sehr saubere Blechbläsersoli besonders auffallen.
Das Publikum im ausverkauften Haus folgt dem szenischen wie musikalischen Verlauf mit sympathisierender Aufmerksamkeit und spendet am Ende ausgiebigen, anerkennenden Applaus ohne die sonst so häufigen Zwischentöne des Mißfallens.
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