Zum Inhalt: „Zu sterben bin ich fest entschlossen; ebendies aber / will ich / ruhmvoll tun und alles Unedle von mir weisen.“ (Euripides) Iphigenie, die Reine, die Jungfrau. Sie schreitet zum Opferaltar. Ihr Blut soll fließen. – Die Konsequenz einer ausweglosen Situation; sitzt doch das gesamte griechische Heer in der Bucht von Aulis fest. Eine Windstille hemmt die Ausfahrt der Flotte. Grund sei der Zorn der Göttin Artemis, die nun per Seherspruch die Opferung der Erstgeborenen des Heerführers Agamemnon fordert: Iphigenie. Die Reine. Die Jungfrau. Das perfekte Opfer. Sie stimmt ihrem Todesurteil freiwillig zu. Sie beugt sich ihrem Schicksal. Das reine Blut des Mädchens ist das Preisschild am Krieg gegen Troja. Dafür will sie sterben, sie wird sterben, für Griechenland. Für das Vaterland. Im Gegenzug unsterbliches Lob – der schöne Ruhm für die Zahme. So kennen wir sie noch heute: Iphigenie. Die Inkarnation von Einsicht, Keuschheit, Lust- und Triebsublimierung. Das Urbild des weiblichen Opfers. Soviel Demut wird sogar von den griechischen Gött*innen entlohnt: Das Messer liegt an Iphigenies Kehle, da rettet die Göttin Artemis sie in letzter Sekunde – Krach, Bum – per Entrückung ins Exil, auf die Insel Tauris und macht sie zur Tempelpriesterin. Puh. Und jetzt? Die Familie weit weg, der Job recht öde, auf der Insel nichts los. Perspektivlosigkeit, Einsamkeit. Wow. Moment mal. Hier ist eben etwas Magisches passiert. Liegt da eine Chance, in der Metaphysik der Entrückung? Wieviel Macht und Relevanz hat die Stimme der entrückten Iphigenie? Wieviel Widerstand steckt im gelangweilten, versoffenen, unrasierten, verfressenen, dauergeilen Frauenkörper? Fakt ist: Nach Aischylos, Euripides, Racine, Schiller und Goethe ist es Zeit für eine Kette rauchende, ungewaschene Weltikone, deren Schritt nach Brie riecht. „Die männliche Perspektive ist ausgelutscht wie 1 alter Penis.“ (Stefanie Sargnagel)
Mit: Paulina Alpen, Jella Haase, Amal Keller, Vanessa Loibl, Emma Rönnebeck, Teresa Schergaut, Susanne Wolff; Musikerinnen: Silke Eberhard, Anke Lucks, Lizzy ScharnofskeRegie: Alexander Eisenach
Idee und Konzept: Lucia Bihler und Teresa Schergaut Regie: Lucia Bihler Künstlerische Beratung: Sonja Laaser Musik: Jacob Suske Choreographie und künstlerische Beratung: Mats Süthoff Bühne: Jana Wassong Kostüme: Leonie Falke Licht: Kevin Sock Dramaturgie: Hannah Schünemann
Verqualmte Antiken-Nacherzählung und solide Comedy
3 years ago
The review is waiting to approval.
Kritik
Der sattsam bekannte Iphigenie-Stoff wird in dieser ersten Stunde des Abends jedoch zu sehr ausgewalzt. Statt der erwarteten Pointierung und feministischen Zuspitzung erleben wir eine weitere Ausgabe recht statischen Corona-Theaters. Zudem leidet die Textverständlichkeit darunter, dass die drei Live-Musikerinnen die Dialoge übertönen und manche Sätze zu leise im weiten Rund der Volksbühne verhallen.
In der zweiten Stunde verschwindet die griechische Tempelanlage, die Jana Wassong gebaut hast, und ein fünfköpfiger Frauen-Chor im weißen Brautkleid spricht Callcenter-Monologe der österreichischen Autorin Stefanie Sargnagel. Anders als in der antiken Vorlage wird Iphigenie nicht zur frommen Priesterin im Tempel der Artemis, sondern zu einer qualmenden, fluchenden Frau, die es in der Sex-Hotline mit notgeilen oder einfach nur überforderten Männern zu tun bekommt.
Die eine oder andere Pointe dieser zweiten Hälfte sitzt, aber auch hier fehlen dramaturgischer Schliff und Timing. Der zweite Teil hat das Format eines soliden Comedy-Abends auf einer Kleinkunstbühne. Die Motive, an denen sich Sargnagel in ihren kurzen Posts abarbeitet, wie z.B. das Schönheitsdiktat finden sich in jedem zweiten feministischen Kabarett-Programm.
Weiterlesen
''Nach kurzem Black kommen die Darstellerinnen alle in Hochzeitkostümen zurück und geben ein 5-köpfiges Damenkabarett mit den Texten von Stefanie Sargnagel, die mit frech-rotzigen Kolumnen, Statusmeldungen auf Facebook und Erfahrungserlebnissen aus einem Callcenter bekannt geworden ist. Und so versetzt Regisseurin Bihler ihre ziemlich überraschten fünf Iphigenien („Scheiße, was für eine Nacht!“) nicht in einen Artemis-Tempel, sondern in ein seelenlosen Callcenter, dem „Friedhof aller Träume“, wo sie („Iphigenie, was kann ich für sie tun?“) zumeist perverse Männeranrufe entgegen nehmen muss. Aber auch sarkastische Selbstbeschreibungen wie „Ich bin ein süßes Mädel mit einem kaputten Schädel“ oder Sprüche wie „Ich möchte eine Entspannungs-CD, auf der alte Frauen die Namen von Mehlspeisen aufsagen.“ gehören zum Vokabular der Sargnagel, die nach eigener Aussage auch gern mal Männer auf Facebook belästigt. Das ist natürlich eine satirische Umkehr der Praxis, wonach Männern dieser Art von Ton vorbehalten ist und Frauen sich nur für sie schön machen und ihren Körper optimieren. Ein paar dieser hochkomischen Partnersuchanzeigen werden hier vom Iphigenie-Chor zum Besten gegeben. Sargnagel karikiert in ihren Texten auch den Körper- und Fitness-Wahn („Ich möchte eine dickere Trainerin haben.“).
Das geht noch munter eine Stunde weiter, ohne wirklichen theatralen Zugewinn. Der Versuch, die Texte Sargnagels in den Dienst berechtigter feministischen Ideen zu stellen, erschöpft sich da schnell im Bühnenklamauk. Zum Thema Hobbys werden Gokarts auf die Bühne gefahren und bei der Aufstellung einer Liste der Lieblingsbücher der österreichische Jugendbuchautor Thomas Brezina (Tom Turbo und Die Knickerbocker-Bande) veräppelt. Politisch wird es, wenn ein Facebook-Eintrag Sargnagels zur Österreich-Wahl 2016 performt wird, in dem sie eine Mauer fordert mit einem blauen Präsidenten auf der einen Seite und einem grünen auf der anderen. Müsli gegen Knackwurst, Fahrrad gegen Panzer. Wenn es so einfach wäre. Zur Rechtsradikalisierung des Internets gibt es auch noch einen Schlusschor im Wasserbecken. Die Iphigenien bieten hier Heilung für Männer, die autoritärere Unterdrückung wollen und doch nur Geborgenheit bei Mama suchen. Vanessa Loibl steigt schließlich zum Bühnenhimmel auf, um beim Platzen Kot und Blut über die Erde zu schauern. „Ich bin Goethe.“ heißt das abschließende Fazit. Leider eine kleine Selbstüberschätzung.'' schreibt Stefan Bock am 13. September 2020 auf KULTURA-EXTRA