Jean Racines fünfaktige Tragödie „Phèdre“ besteht aus 1654 paarweise gereimten Alexandrinern, einem vor allem im Barock verwendeten Versmaß. Sie wurde 1677 in Paris uraufgeführt und von Friedrich Schiller in deutschsprachige Prosa übertragen. Die Figuren entstammen weitgehend der griechischen Mythologie; Racine bezieht sich mit Schwerpunkt auf die Tragödie „Der bekränzte Hippolytos“ aus der Feder des griechischen Dichters Euripides.
Regisseur Stephan Kimmig stellt die Aufführung am Deutschen Theater Berlin in ein Bühnenbild von Katja Haß, das aus monumentalen weißen Blöcken mit teils davor gesetzten begehbaren Rampen besteht. Man kann auf diesen Rampen halsbrecherische Gratwanderungen vollziehen, zornig oder im Gefühlsüberschwang gegen die Wände anrennen oder sich auf einem der Vorsprünge zu spannungserfüllten Sitzgruppen zusammenfinden.
Während in der Mythologie die Gefühlslage der Phädra, der Gattin des Theseus, auf eine Verzauberung zurückgeführt wird, der die Verzauberte hilflos ausgeliefert ist, hebt Kimmigs Regiekonzept die Ambivalenz von Gefühl und Affekt hervor. Folgerichtig muss sich der Zuschauer eingangs durch eine etwas langatmige Textprojektion zur Natur des Affekts hindurchknabbern, ehe dann Hippolyt (Alexander Khuon), Sohn des Theseus, König von Athen, und von dessen erster Frau Antiope, zusammen mit seinem Vertrauten Theramen (Jeremy Mockridge) den ersten Auftritt hat. Theseus ist von einem Feldzug nicht zurückgekehrt und gilt als verschollen. Phädra (Corinna Harfouch) beichtet ihrer Vertrauten Oenone (Kathleen Morgeneyer), dass sie insgeheim und tiefinnerlich Hippolyt liebt - eine Regung, die sie sowohl als verwerflich wie als unausweichlich erlebt. Als sie mit Hippolyt zusammentrifft, ereignet sich eine der faszinierendsten, auch schauspielerisch mitreissendsten Szenen des ganzen Stücks: wie Phädra sich zu Hippolyt buchstäblich gewaltsam hingezogen fühlt und vergeblich versucht, sich gegen diese Regung zu stemmen, ist grandios vorgeführt.
Der totgeglaubte Theseus (Bernd Stempel) kehrt unerwartet zurück und trifft rundum („Welch seltsamer Empfang“) auf betretene Gesichter. Phädra steht das peinliche Empfinden ihrer ehebrecherischen Neigung ins Gesicht geschrieben, und Hippolyt, der diese Zuwendung ablehnt, liebt stattdessen Aricia, eine Königstochter aus dem Geschlecht der einst von Theseus besiegten Pallantiden (Linn Reusse), was dieser nun mit Befremden zur Kenntnis nimmt. Oenone will Phädra vom Verdacht des Ehebruchs befreien und behauptet, Hippolyt habe Phädra vergewaltigt. Nach dem Chaos verwirrender, widersprüchlicher Behauptungen hält im fünften Kapitel der Tod reiche, auf tragische Weise klärende Ernte. Der von Theseus voreilig angerufene Gott Neptun schickt ein Meeresungeheuer, das die Pferde des Kriegswagens von Hippolyt scheuen lässt. Der junge Held verwickelt sich in den Zügeln des Gespanns und wird vor den Augen seines Vertrauten Theramen zu Tode geschleift. In einem fesselnd vorgetragenen Botenbericht schildert Theramen den Hergang dieses Unglücks. Phädra kann sich von der Last ihrer verwerflichen Liebe nicht befreien, bekennt sich schuldig und gibt sich selbst den Tod durch Gift.
Die Inszenierung von Stephan Kimmig hat den Vorzug der Konzentration auf die wesentlichen dramatischen Elemente. Vor dem strahlend weissen Hintergrund des allgegenwärtigen Bühnenbildes haben die Akteure alle Möglichkeiten, plausible Charakterbilder und zutreffende Signale ihrer Interdependenz zu entwickeln. Die Wirkung hängt zum guten Teil auch vom Umgang mit Schillers anspruchsvoller Sprache ab. Das gelingt am überzeugendsten Corinna Harfouch in der Titelrolle, dicht gefolgt von Bernd Stempel als Theseus. Bei ihm versteht man jedes Wort, und seine verschiedenen Auftritte in verblüffend wechselndem Habit bis zu Sommeranzug und Sonnenbrille verbreiten den erforderlichen szenischen Reiz. Unübertrefflich der Schlusseffekt von Phädras Sterbeszene in blutrotem Reifrock vor weissem Hintergrund.
Das Publikum honoriert den Ausflug in die griechische Mythologie mit anhaltendem Applaus, der die schauspielerischen Leistungen angemessen würdigt.
http://roedigeronline.de