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Sancta

Bewertung und Kritik zu

SANCTA 
von Florentina Holzinger
Premiere: 30. Mai 2024
Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin 
Stuttgart-Premiere: 5. Oktober 2024
Staatsoper Stuttgart
Berlin-Premiere 15. November 2024
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

Zum Inhalt: Florentina Holzinger eröffnet SANCTA mit Paul Hindemiths einaktiger Oper Sancta Susanna, in der eine Nonne brutale Bestrafung für ihre sexuelle Selbstbestimmung erfährt. Es folgt eine heilige Messe: Bach, Rachmaninow, Metal, Noise und zeitgenössischen Kompositionen treffen in einer musikalischen Tour de Force aufeinander, in der Magie und Wunder der Kirche eine Aneignung erfahren, aber auch ihr Bezug zu Opfer und Gewalt verarbeitet wird.

Der religiösen Disziplinierung und Bestrafung von Sexualität zum Erlangen von religiöser Ekstase stellt SANCTA einen lustvollen Gegenentwurf gegenüber.
Auf der Suche nach Transzendenz, verdrehen Körpermodifikationskünstlerinnen* die religiösen Topoi von Kreuzigungswunden, Penetration, Kannibalismus und Transformation; Show-Magierinnen* zeigen ihre Interpretationen der biblischen Wunder; die Sixtinische Kapelle wird zur Kletterwand, die Oper zum Rockmusical, Gott zum Roboter, Jesus Christus zu Jesus Christ Superstar. Die heilige Messe wird zum Spektakel, Magie und Wunder, so Florentina Holzinger, müssen zur realen Möglichkeit werden. Spinnenhaft und dunkel, laut und exzessiv, lustig und erlösend, fordert SANCTA religiöse Konventionen heraus, in dem Versuch sie gleichzeitig zu erneuern.

Florentina Holzinger gilt aktuell als eine der aufregendsten Theatermacherinnen und ist bekannt für ihre radikalen wie spektakulären Performances, die alle Grenzen sprengen. Für ihre Produktion Ophelia’s Got Talent an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin ist sie in zahlreichen Kritiker:innen-Umfragen ausgezeichnet worden, u. a. in der Zeitschrift Theater heute als „Theaterregisseurin des Jahres” und von der Zeitschrift TANZ für die beste Inszenierung des Jahres. Erstmals entwickelt sie nun eine Oper, bei der sie und ihre Performerinnen* gemeinsam mit Gesangssolistinnen, Sängerinnen des Chores und Orchester auf der Bühne stehen.

4.0 von 5 Sterne
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Die Mysterien der Susanna oder Holzingers Sister Act
1 Monat her.
Kritik

''Florentina Holzinger wird in der Regel dem Tanztheater zugeordnet. Allerdings ist sie vielfach dem Zirkus und der Akrobatik näher als dem modernen oder gar dem klassischen Tanz. Damit rückt sie in die Nachbarschaft von aktuellen Tendenzen im populären Showbusiness. In der aktuellen Produktion ist es jedoch nach rund einer halben Stunde vorbei mit Hindemith, und seine Susanna – eindrucksvoll Caroline Melzer – verschwindet im Ensemble, das nunmehr musikalisch durcheinandergequirlt dem Schema der katholischen Messe folgt. Vorne besticht ein Fest der Frauenstimmen, während hinten an einer Kletterwand „getanzt“ wird.

Eine Frau kraxelt an einem Seil zu einer Glocke hoch und wird zum Klöppel, Skater sausen unermüdlich hin und her. Später schaukeln zwei Nackte auf einem überdimensionalen Weihrauchfass. Eine Magierin mit roter Perücke führt konventionelle Zaubertricks vor. Florentina Holzinger legt keinen Wert auf eine zusammenhängende Geschichte, die bei August Stramm durchaus erkennbar ist. Das ähnelt am ehesten der Folge von Ereignissen im Varieté. Die Choreografien sind zum Teil von einer Schlichtheit, die das Fernsehballett unterfordern würde.

Und die Provokation? Die nackten Frauen und masturbierende Penisträger sind ungefähr so schockierend wie eine unpünktliche Stuttgarter S-Bahn. Was komisch sein soll, ist, mit Verlaub, infantil, mehr Pennälerwitz als „Liebeskonzil“. Tobender Applaus wie schon in Schwerin.

Und jetzt habe ich nur einen Wunsch: eine Oper, die sich auf Hindemith und Sancta Susanna einlässt, und einen Regisseur vom Format eines Luis Buñuel (es kann auch Calixto Bieito sein). Und dass dabei weniger mit den Armen gefuchtelt und das Körpergewicht stereotyp von einem Bein auf das andere verlagert wird. So viel Disco-Stumpfsinn war, jedenfalls in der Oper, selten.'' schreibt Thomas Rothschild am 6. Oktober 2024 auf KULTURA-EXTRA

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4 von 6 Person(en) gefiel diese Kritik
Konsequente Weiterentwicklung einer spannenden Künstlerin
18 Tage her.
Kritik

Auf dem Rosa Luxemburg-Platz in Berlin herrschte zwar auch viel Unruhe vor dem „Sancta“-Heimspiel in der Volksbühne. Dies lag aber vor allem an den Verzweifelten, die noch auf ein Ticket zum stolzen Preis von 80 € hofften. Überraschend konventionell und nah am Hindemith-Original bringen Holzinger und ihre musikalische Leiterin Marit Strindlund den Einakter vorne an der Rampe hinter sich. Typisch Holzinger und noch expliziter queer-feministisch als von ihr bisher gewohnt begleiten nackte Performerinnen diesen Einakter mit eindeutigen Posen des Sich Aneinander Reibens, Leckens, Küssens.

Nach dieser ersten halben Stunde nimmt dann die eigentliche Holzinger-Show Fahrt auf. Im Nonnenkostüm skaten die FLINTA-Performerinnen durch die Halfpipe, als erste lesbische Päpstin wird Saioa Alvarez Ruiz von einem Roboter-Arm in die Luft gehoben, Annina Machaz hat einen Stand up-Comedy-Auftritt als zu spät auf die Bühne hetzender Jesus auf Schwyzerdütsch und zum Letzten Abendmahl lässt sich eine Holzinger-Jüngerin ein Stück Fleisch herausschneiden, das sie an die anderen verteilt.

Das hört sich nach Nummern-Revue an, folgt aber einem klaren roten Faden. Die Misogynie und Brutalität der katholisch-römischen Kirchengeschichte sind die Folie, von der sich Holzinger in ihrem „Sancta“-Hochamt abhebt. Den Hass, dem die Ausgegrenzten jahrhundertelang ausgesetzt waren, kehren die Performerinnen in den Selbstverletzungs-Aktionen gegen sich.

Wie es sich für jede Messe gehört, kreist die Liturgie nicht nur um sich selbst, sondern stiftet eine Gemeinschaft. Das Publikum ist aufgerufen, öffentlich die Sünden zu beichten. Immer wieder stehen weitere Leute auf, so dass die Szene viel länger dauert als in Stuttgart, wie Holzinger mit einem Seitenhieb ätzt. Noch an einer weiteren Stelle spielte sie auf den Medienrummel um das vermeintliche Skandalstück an.

Doch es könnte kaum ein friedlicheres Schlussbild geben, als den gemeinsamen Chor aus Performerinnen und Publikum zur Rocky Horror Show-Hymne „Don´t dream it, be it“.

Alle, die gestern und heute nicht bei diesem Hochamt dabei sein durften, können noch davon träumen, dass die Theatertreffen-Jury diesen Abend als das einstuft, was er ist: eine bemerkenswerte Weiterentwicklung einer der spannendsten Künstlerinnen der Gegenwart.

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