Meyerbeers „Grand Opéra“ repräsentiert die große Vergangenheit dieses Genres. Uraufführung 1836 in Paris, und der historische Hintergrund ist die Hugenottenverfolgung samt der blutigen Bartholomäusnacht vom 23. August 1572. Da könnte man nun abwinken und von etwas restlos Dahingegangenem sprechen, wenn sich nicht in der Konfliktlage überraschende Parallelen zum Hier und Heute ergäben, beispielsweise im nicht immer friedlichen Nebeneinander von Christentum und Islam oder in einem politischen Putsch, der einen voraufgegangenen Putschversuch unterstellt und davon mit radikalen Mitteln auch die letzten Spuren zu tilgen versucht. Sieht man also das Paradigmatische, hat man auf einmal ein durchaus aktuelles Anschauungsstück vor sich, das die zerstörerische Wirkung des religiös fundierten Fanatismus vor Augen führt, die keineswegs für alle Zeiten getilgt ist.
Giacomo Meyerbeer war zu Lebzeiten gewiss der berühmteste Opernkomponist seiner Epoche, bevor Richard Wagner dann mit nicht immer fairer Polemik gegen ihn zu Felde zog. Meyerbeers kompositorische Leistung hat in der Geschichte der Oper mit mehreren Werken nachhaltige Spuren hinterlassen, die es allemal rechtfertigen, sie auch in unseren Tagen auf den Spielplan zu setzen. An den „Hugenotten“ ist gut zu verfolgen, wie die Textautoren Eugène Scribe und Emile Deschamps die Schicksale von Einzelpersonen mit den überlieferten Fakten historischer Ereignisse verknüpfen und dadurch einen vergleichsweise dichten dramaturgischen Handlungsablauf erreichen. Die neue Berliner Inszenierung von David Alden mit dem Bühnenbild von Giles Cadle nimmt diesen Handlungsfaden geschickt auf und kann die Intimität persönlicher Empfindungen einleuchtend und plausibel mit der Darstellung eines gnadenlosen, historisch belegten Konflikts verbinden.
Einer der Reize des fünfaktigen „Hugenotten“-Librettos besteht darin, dass die ersten beiden Akte szenisch eher heiter gestimmte Leichtgewichte sind, während die anderen drei Abschnitte von der zunehmenden Düsternis der gesamtgesellschaftlichen Konfliktlage geprägt werden, die sich wie ein dunkles Verhängnis über die individuelle Lebenslage breitet. Das Bühnenbild mit einem stilisierten Kirchendach und einer dort symbolisch befestigten überdimensionalen Glocke bleibt vier Akte lang unverändert, bis es sich am Ende erstickend auf die Kirchgänger absenkt. Auf die Vorderbühne herabgelassene Zwischenvorhänge ermöglichen gleichwohl szenische Verwandlungen. Was während der drei letzten Akte still und leise durch Positionsänderungen von Bänken, Stühlen und Tischen an Schauplatzänderungen erreicht wird, ist sehr beachtlich. Insgesamt wird ein durchgehender, einleuchtender und nachvollziehbarer Handlungsablauf erreicht.
Meyerbeers Musik ist von durchaus eigenem Reiz. Klingt sie in den ersten beiden Akten leicht und verspielt, gelegentlich den späteren Stil von Offenbach vorwegnehmend, wandelt sie sich mit dem Vorherrschen tragischer Elemente zu markantem Auftreten mit Betonung der Dramatik. Statt wechselnder Leitmotive gibt es eigentlich nur ein wiederkehrendes und die Hugenotten charakterisierendes musikalisches Symbol: die Choralmelodie „Ein feste Burg ist unser Gott“ mit dem Text von Martin Luther.
Der Dirigent Michele Mariotti erbringt, wenn man mal von geringen Synchronisierungsdifferenzen zwischen Chor (Einstudierung: Raymond Hughes) und Orchester zu Beginn absieht, eine insgesamt beifallswürdige Leistung, zumal die Abstimmung zwischen teils solistisch agierenden Orchesterinstrumenten, der Bühnenmusik sowie Solisten und Chor durchaus schwierige Aufgaben stellt. Der Chor, von Ballett und Statisterie unterstützt, wird streckenweise zum Träger der Handlung und gestaltet Massenszenen von bezwingender Optik.
Den Erfolg des Abends tragen aber insbesondere die stimmlichen Leistungen der Hauptpartien. Patrizia Ciofi als Königin Marguerite von Valois läßt Spitzentöne und Koloraturen von müheloser Schönheit hören, und die Rolle der liebenden Valentine im Glaubenskonflikt wird in der Darstellung von Olesya Golovneva zu einer fesselnden, an stimmlicher Dramatik kaum zu überbietenden Figur. Der Page Urbain von Irene Roberts nimmt durch stimmliche Klarheit und brillante Präsenz für sich ein. Ein besonderes Highlight ist das Rollendebüt von Juan Diego Florez als Hugenottenführer Raoul von Nangis: seine Stimme hat zwar kein überwältigendes Volumen, aber er macht diesen Mangel durch vollendete Gesangskultur und perfekte Artikulation wett, so dass er stets im Vordergrund steht, sobald er auf der Szene ist. Die leidenschaftliche Hingabe in seiner Rollengestaltung ist stets mitreissend und überzeugend. Ihm zur Seite sein treuer Diener Marcel, dem Ante Jerkunica seine kraftvolle Baßbaritonstimme und einen überaus glaubwürdigen und bewegenden szenischen Auftritt verleiht.
Das Publikum im praktisch ausverkauften Haus zeigt auch nach den fünf Stunden der Aufführung keine Ermüdungserscheinungen und überschüttet Chor und Solisten mit frenetischem Applaus. Das Regieteam kassiert bei seinem Auftritt ein paar Buhrufe - diesmal nun wirklich total unberechtigt. Man muss darin wohl eher eine ruppige Art des Lobes erblicken.
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