Zum Inhalt: Marlene Freitas zieht das Publikum mit ihrer opulenten, bildgewaltigen und anspielungsreichen Sprache in den Bann. Mit grenzenloser Kreativität verbindet sie in ihren exzessiven und expressiven Arbeiten vielfältige, verstörende und humorvolle Elemente, die sich gleichsam zu einer spektakulären, sinnliche Eindrücke erzeugenden Maschinerie formieren. Ihre jüngste Arbeit ist zugleich ihre bislang ambitionierteste: Acht Tänzer*innen und fünf Trompeter*innen verwandeln Euripides’ “Die Bakchen“ in einen Kampf zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen. Ausgehend von Ordnung und Vernunft auf der einen Seite und Irrationalität und Rausch auf der anderen, entwickelt Freitas einen bildmächtigen, existenziellen Trip, der von mythologischen Motiven und Popkultur gleichermaßen inspiriert ist. In einer zeitgenössischen Parade komplexer Figuren transformiert sie auf groteske Weise Szenen aus dem alltäglichen Leben in verstörende, musikalische Zustände der Ekstase. Die absurde Komödie kippt in eine abgrundtiefe Tragödie und umgekehrt.
Mit Andreas Merk, Betty Tchomanga, Cookie, Cláudio Silva, Flora Détraz, Gonçalo Marques, Guillaume Gardey de Soos, Johannes Krieger, Lander Patrick, Marlene Monteiro Freitas, Miguel Filipe, Tomás Moital, Yaw Tembe
Choreografie: Marlene Monteiro Freitas Licht und Raum: Yannick Fouassier Ton: Tiago Cerqueira Stuhldesign: João Francisco Figueira, Luís Miguel Figueira Kostümassistenz: Cristina Neves Recherche: João Francisco Figueira, Marlene Monteiro Freitas
Zunächst fällt die mitreißende Musik ihrer Compagnie auf. Stampfend und überschäumend zelebrieren sie das dionysische Prinzip, das in der antiken griechischen Mythologie der rauschhafte Gegenpol zum vernunftgeleiteten Appolinischen war. Dies ist die einzig offenkundige Anleihe aus der „Bacchen“-Tragödie des Euripides, deren Handlungsgerüst und Figuren in dieser überbordenden Performance, anders als der Titel vermuten ließe, ansonsten keine Rolle spielen.
Die zweite Quelle, aus der sich dieser Abend speist, sind klassische Clownsnummern. Die fünf Trompeter sind fast noch stärker geschminkt als Monteiro Freitas und die sieben anderen Tänzerinnen und Tänzer. Augen und Münder sind durch dicke Farbschichten überbetont und werden vor allem von den drei Frauen oft voller Entsetzen weit aufgerissen. Auch die Bewegungen greifen tief auf den Fundus des Slapsticks zurück. Das Interessante des Abends ist, dass aus der Kombination dieser z.T. sehr deutlichen Anleihen bei der berühmten Schreibmaschinen-Nummer des im August verstorbenen Jerry Lewis oder bei Charlie Chaplin mit karibischer, portugiesichen und brasilianischen Musikstilen und klassischer griechischer Mythologie eine eigenständige neue Mischung entsteht, die ein bunter Farbtupfer in der Tanzszene ist.
Eine ebenso schräge wie furiose Interpretation von Ravels „Bolero“, in der – wie zu vor schon Drumsticks – die Notenständer als an diesem Abend leitmotivisch allgegenwärtige Phallus-Symbole eingesetzt werden, ist das würdige Finale. Eine Woche nach der Premiere beim Steirischen Herbst in Graz ließ die internationale „Bacchae“-Koproduktion das HAU 1 bei vorerst leider nur zwei Vorstellungen vibrieren. Mit ihrer Power hätten sie keine Probleme, auch wesentlich größere Bühnen wie das Haus der Berliner Festspiele oder die Volksbühne zu bespielen und die ganze Wucht ihrer Performance zur Geltung zu bringen.
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