Kritik
Das Stück beginnt mit ein wenig Verwirrung. Eine elegant gekleidete junge Frau betritt den Raum als letzte und fragt die Zuschauer immer wieder nach dem Ende der Schlange der Wartenden. Und die Theatergäste versuchen eifrig zusammenzurücken, in der Annahme, dies sei eine verspätete Besucherin auf der Suche nach einem Sitzplatz! Erst nach einigen Momenten wird dann klar, dass es sich um das kunstseidene Mädchen ( Antonia Bill ) handelt. Sie ist zu einem Vorsprechen da. Dass bereits so viele warten, nimmt ihr allerdings ein wenig den Mut. Grummelnd bahnt sie sich einen Weg ganz nach vorn. Während des Wartens erzählt sie ein wenig. Von der Kleinstadt. Von den Eltern. Von der Schauspielschule. Dort ist sie irgendwie hinein geraten, eher durch Zufall. Vielleicht auch durch Lügen. Und vielleicht auch, weil sie eine Konkurrentin im Klo einsperrte. Ihre Wortwahl ist spitz, manchmal beinahe poetisch, dann wieder grob. Sie ist träumerisch, sie ist kokett, sie ist naiv, aber auch zielorientiert, wenn es um Pelze und Juwelen geht.
Sie möchte ein Glanz werden. Ein Glanz wie aus den Magazinen, eine Marlene Dietrich, eine Anita Berber, eine Angelina Jolie! Arbeiten möchte sie dagegen nicht. Auf keinen Fall! Etwas schlimmeres kann sie sich kaum vorstellen. Sie flieht aus der Provinz, mit einem gestohlenen Pelzmantel, Richtung Berlin. Berlin erscheint so pracht- und glanzvoll, so schnell, so wunderschön. Und weil sie jung ist und hübsch, findet sie dort auch Aufmerksamkeit. Die Männer sind ihr oft zuwider. Sie versteht ihre Handlungsweisen und ihre Gedanken oft nicht, versteht es dennoch, sie zu manipulieren. Urteilt sie dafür wiederum brutal ab. Verliebt sich dann aber doch, ganz gegen ihren Willen, in einen von ihnen, der sie nicht zurück liebt.
Antonia Bill lebt und atmet die Doris, das kunstseidene Mädchen. Sie flirtet, sie kokettiert, sie träumt und leidet und weint voller Inbrunst. Wenn sie sich unglücklich verliebt und schließlich ganz allein auf der Straße steht, dann möchte man am liebsten mit ihr weinen und sie fest in den Arm nehmen. Sie ist eine richtige Naturgewalt und hat das Publikum ganz fest in ihrem Griff. Eine grandiose Ein-Frau-Show! Das kunstseidene Mädchen ist bei ihr niemals unsympathisch, immer großäugig-verblüfft, aber schlauer als sie zugeben will. Sie sieht die Welt auf ihre ganz eigene Art und kommt doch nicht umhin, nach den Regeln anderer zu spielen. Das Stück wird wunderbar abgerundet durch die Lieder von Carsten Golbeck , Rainer Bielfeldt begleitet auf dem Klavier.
©Nicole Haarhoff - www.berlineransichtssachen.com