Von Wajdi Mouawad hatte ich vor vielen Jahren, ebenfalls in Hamburg, im Ernst-Deutsch-Theater, das Stück VERBRENNUNGEN gesehen. Ein unfassbar gutes Stück Theaterliteratur. Das Familiendrama entwickelte sich wie ein Kriminalroman und enthüllte sich erst nach und nach. Es begann familiendynamisch, und führte von der kanadischen Gegenwart eines heutigen Zwillingspaares einer alleinerziehenden Mutter zurück in eine unbekannte libanesische Vergangenheit, die von Krieg, Flucht und Kindersoldaten geprägt war. Die Enthüllung, die die Geschwister von ihrer privilegierten, westlichen Gegenwart in die Hölle eines seit Jahrzehnten bestehenden unbarmherzigen Krieges schleuderte, hatte eine gigantische Wucht, als sie am Ende deutlich wurde. Dabei wurden tiefe Einsichten des Zuschauers erzeugt über innerseelische und welthistorische Qualen, Zusammenhänge und Schuld. Genial schaffte es Mouawad damals individuelles Schicksal mit Weltgeschichte zu verschmelzen. In Deutschland wurde das Stück damals an 23 Bühnen gespielt. Später wurde auch ein Film gedreht: „Die Frau, die singt“, ebenfalls ein großer Erfolg.
Wajdi Mouawad ist ein Theaterautor shakespearscher Größe. Er wurde 1968 in Deir-el-Kamar (Libanon) geboren, musste sein Heimatland mit acht Jahren verlassen, wuchs in Frankreich auf und emigrierte 1983 nach Kanada, weil Frankreich seinen Eltern das Bleiberecht verweigerte. Er gründete seine erste Theatergruppe Théâtre Ô Parleur, wurde 2000 künstlerischer Leider des Théâtre de Quat’sous und rief die erste französisch-kanadische Theatergruppe Abé Carré Cé Carré / Au Carré de l’Hypothénuse ins Leben, mit der er seine eigenen Stücke entwickelte und inszenierte.
Mouawad hatte bereits ein umfangreiches dramatisches Werk vorzuweisen, als 2006 zum ersten Mal ein Stück von ihm in Deutschland aufgeführt wurde. Das Stück VERBRENNUNGEN eroberte danach auch in Deutschland die Theaterlandschaft. Von 2007 bis 2012 war Mouawad künstlerischer Leiter des Französischen Theaters Ottawa. 2009 war er als „Artiste Invité“ für das Festival d'Avignon, seit 2011 in selber Funktion für das GrandT-Nantes, und seit 2016 ist er Direktor des Théâtre national de la Colline in Paris tätig. Hier brachte er 2017 „Tous des oiseaux“ (dt. „Vögel“) in eigener Regie zur Uraufführung. Mouawad lebt heute in Frankreich, er erhielt zahlreiche Auszeichnungen.
Das Stück VÖGEL wurde 2022 an 14 Bühnen Deutschlands gespielt. Es handelt sich ebenfalls um ein Familien-Enthüllungsdrama, was mit welthistorischen Ereignissen verschmolzen ist. Diesmal geht es um das Israel-Palästina-Drama. Ein junger Mann mit jüdischen Wurzeln verliebt sich in eine junge Frau aus arabischer Familie. Im multikulturellen Berlin spielt das keine Rolle, die beiden haben andere Probleme. Der junge Mann spürt seine Gefühle zu wenig, ist in die Welt seiner genetischen Wissenschaftsforschungen verhakt, die junge Frau hilft ihm da raus. Sie forscht auch, spürt einem arabischen Dichter aus dem 17. Jahrhundert nach. Sie verlieben sich, sie leben zusammen, sie sehen sich als Vögel, die mühelos Grenzen überfliegen und damit auch überwinden können. Es kommt, der Tag, da die jüdischen Eltern samt Großvater anreisen. Vater und Mutter sind über die arabischen Namen des Mädchens entgeistert. Der Großvater, ein Holocaustüberlebender, steuert dagegen: Dass sie sich lieben sei das Wichtigste, und dass sie glücklich sind, er umarmt seine Schwiegertochter in spe.
Bis dahin ist es etwas sehr oft schon in Israel Problematisiertes, die ins Liebesleben verlagerte Dramatisierung der großen Tragik des Israel-Palästina-Konfliktes. Schon vor Jahrzehnten begeisterte mich ein israelischer Film, in dem die Liebe eines israelischen Mannes zu einem Palästinenser dramatisiert wurde und ich sah viele israelische Filme, in denen dieses Thema immer wieder aufgegriffen wird. Eine riesige israelische Friedens- und Kulturbewegung versucht hier seit 50 Jahren Aufklärung und Lösungsmöglichkeiten durch zahllose Projekte.
Nun hat das auch Wajdi Mouawad gemacht. Der Vater des Eitan in dem Stück fällt durch strengsten Zionismus auf, er will es nicht erlauben, dass sein Sohn ein arabisches Mädchen liebt. Er redet davon, dass sich in ihren Kindern das jüdische Blut sozusagen verwässere und dadurch Israels Volk schließlich in seiner Reinheit von dem Sohn ausgelöscht würde. Er vertritt damit die Gedankenwelt der Holocaust-Täter. Eugenisch gepägte, pseudowissenschaftliche Argumente, die den Genetikersohn erzürnen müssen. Eitan nimmt nun heimlich Proben von den Eltern und dem Großvater und findet heraus, dass sein Vater nicht der leibliche Sohn seines Großvaters ist. Dies führt zu einem Besuch in Israel, sehr gut vorstellbar auf einer breiten Leinwand in Form eines Reisefilms umgesetzt, wo die geschiedene Großmutter zurückgezogen lebt und enthüllt im Laufe des weiteren Stückes, das nun Fahrt aufnimmt, ein Familiendrama ungeheurerster Größe. Ein Shakespeare-Stück. Etwas, was existentiell wirkt und die Protagonisten bis ins Mark erschüttert und verändert. Ein Hoch an den Regisseur Hakan Savas Mican und die Hamburger Schauspieltruppe des Thalia in der Gaußstraße.
Zuschauer in Hamburg konnten ihren Beifall nicht bremsen, nachdem sie die Spieler sechs mal wieder hervorgeklatscht hatten, standen einige ehrerbietig auf, woraufhin sich der gesamte Saal von den Stühlen hob, weiterklatschte, in tiefer Ehrfurcht standen die Menschen vor diesem Stück, viele mit Tränen in den Augen. Das Stück ist, genau wie Mouawads Stück Verbrennungen ein einziger Friedensappell: Menschen, macht Schluss mit dem Krieg, lasst ihn nicht eure Herzen vergiften, eure Familien bis in die vierte Generation hinein zerstören! Und was ist nun passiert? Diesem international auf zahllosen Bühnen geachteten Theaterautoren, mit Preisen überhäuft, immer für den Frieden sich einsetzend, dem wird nun von einer jüdischen Studentenvereinigung in Bayern vorgeworfen, sein Stück sei antisemitisch und daraufhin wird dieses Stück an allen Bühnen Deutschlands abgesetzt.
Merkwürdig ist das in Deutschland, dem Land der Nachfahren von NS-Tätern: Eine staatshörige Israelposition wird eingenommen und jeder, der heute gegen die dort jetzt grade herrschende Politik, die seit Jahren gegen rechts tendiert, seine Stimme erhebt, wird als Antisemit diffamiert. Israelischen Professoren, sollten sie kritisch über ihren Staat denken, oder vortragen wollen, verweigert man in Deutschland Räume! Auftrittsverbot für Israelis! Israelischen Künstlern, sollten sie in Deutschland auftreten mit kulturellen Friedensappellen und -projekten, man verweigert ihnen Spielstätten! Wo ist hier der wahre Antisemitismus? Nun ja, nun hat es ja einen Kanadier mit arabischen Wurzeln getroffen, der es auch einmal wagte, etwas zu kritisieren. Nicht mal Israels Politik, nicht mal seine Soldaten, nein, diese wurden, im Falle des Großvaters, menschenliebend gezeigt, nur eine bestimmte Denkweise wurde hier kritisch bewertet, nämlich die eugenisch abgeleitete Wahn-Idee, es gäbe ein anderes jüdisches Blut, was sich, zb. mit arabischem Blut gemischt - wo man dann den „Feind“ im eigenen Körper hätte - „verwässern“ würde und damit das Jüdische auslöschte und einen neuen Holocaust erzeugen würde. Gedanken, die genauso, wie hier auf der Bühne, die Fundamentalisten in Israel selbst lautstark behaupten und wissenschaftlich belegt haben wollen.
Nicht ein Wort dieser Position hat sich Mouawad ausgedacht, genauso wird es vertreten und das ist eugenisch argumentiert, im Namen einer rassistischen Scheinwissenschaft, die keinerlei wissenschaftliche Basis hat, sondern Mittelalter, Aberglaube und zerstörerisch, inhuman ist. Und im übrigen dieselbe ist, die einst von Blutvergiftung durch das jüdische Blut sprach. Glücklicherweise folgen nicht alle Bühnen in Deutschland dieser Verweigerungshaltung von Mouawads Stück. Ich lese, es soll weitere Bühnen geben, die es doch aufführen wollen, u.a. Lüneburg. Bravo für jede Bühne, die den Mut hat, sich gegen die Keule des Antisemitismus-Vorwurfs jeglicher Israelkritik zu stellen. Wenn man einen Staat nie mehr kritisieren darf, die dort vertretenen Meinungen, Haltungen, Handlungen nicht mal erwähnen, und darstellen darf, sondern nur noch schönen muss, dann ist das Diktatur, keine Demokratie. Demokratie, im Namen dessen doch angeblich die ganz westliche Welt agiert, sie bleibt hier auf der Strecke. Wie kann man das zulassen und mitmachen? Nicht ein einziges Wort in diesem ganzen Stück ist antisemitisch, nichts. Es ist ein zutiefst humanistisches, menschenliebendes Stück, dass sich gegen eine kriegerische Welt und dessen billige Rechtfertigungen wendet, in deren Mittelpunkt immer von höherwertigen und minderwertigen Menschen die Rede ist, was man angeblich am Blut erkennen könne. Pfui Teufel mit jeder Blutpolitik! Es gibt nur eine Menschheit, wir haben alle dasselbe Blut, stammen alle vom Neanderthaler ab, ob weiß, ob schwarz, ob blond oder dunkelhaarig, keiner ist weniger Wert als der andere, das ist die Botschaft dieses Stückes! Was einzig zählt ist Mitgefühl, Mitleid mit dem leidenden Menschen, in diesem Falle mit einem kleinen hilflosen Baby in einem Schrank, inmitten des Schlachtfeldes von Sabra und Schatila. Nächste Aufführung in Hamburg am 14. Februar: https://www.thalia-theater.de/stueck/voegel-2019
Anja Röhl
https://anjaroehl.de/