Der „King Lear“ ist eine komplexe, sehr tiefgründige Tragödie aus dem Jahre 1605 von William Shakespeare. Fünf Akte, zahlreiche Personen, mehrere Handlungsstränge, zu allem Überfluss auch noch zwei verschiedene Textfassungen. Wenn nun Evgeny Titov im bat-Studiotheater der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ eine „König Lear“-Version von 100 Minuten Spieldauer ankündigt, muss er sich auf bestimmte Aspekte dieses umfangreichen Dramas beschränkt haben. Es wird darauf ankommen, ob diese Aspekte so ausgewählt sind, dass ein wesentlicher Teil der Persönlichkeit von König Lear skizziert wird und davon eine zwingende Bühnenwirkung ausgeht.
Regisseur Titov löst das Mengenproblem geschickt und entschlossen. Er präpariert aus den mannigfaltigen Handlungsfäden der Shakespeare-Vorlage einen Strang heraus, der sich mit der Person von König Lear und mit der existentiellen Frage beschäftigt, was eigentlich des Menschen unabdingbarer Besitz sei. Dabei bleibt die deutsche Übersetzung von Frank Günther erhalten, und deren sprachlicher Reiz trägt erheblich zur Wirkung der Inszenierung bei. Vor den kahlen, grau getönten Wänden der Guckkastenbühne von Katharina Grof umstehen eingangs die drei Töchter des Königs, spannungsreich im Dreieck postiert, eine Anzahl schwarzer Plastiksäcke, die den Besitz des Königs symbolisieren. Die Regie unterstreicht die Endzeitstimmung durch lange Gänge und ausgedehnte Pausen. Der König (Moritz Carl Winklmayr) ist alt, resignierend, will sich aus der Regierung verabschieden. Zuvor verteilt er Anteile seines Reiches und Besitzes an die beiden liebedienerischen Töchter Goneril (Janine Meißner) und Regan (Antonia Scharl). Da die dritte Tochter Cordelia (Lara Feith) den geforderten Liebesbeweis schuldig bleibt, enterbt sie der König und verstößt sie vom Hof.
Anschließend verfällt er in Wahnsinn. Nur der Narr (vorzüglich und mit weiß geschminkter Ganzkörper-Maske: Henning Flüsloh) teilt seine Einsamkeit und bläst ihm in immer neuer Serie sarkastische Lebensweisheiten ein, die aber hinsichtlich ihrer Relevanz ebenso hinfällig sind wie alle Besitzgegenstände und alle einst wirksamen Befugnisse des Königs. Dann agiert im Hintergrund noch Edmund (entsagungsvolle stumme Rolle, die Maximilian Gehrlinger aber konzentriert und mit guter Bühnenpräsenz absolviert). Der nutzt die Faszination, die er auf die beiden Erbtöchter ausübt, für allerlei pittoreske Spielchen.
Des Königs Wahnsinn verhilft ihm kurioserweise zu einer letzten, zutiefst resignativen Einsicht, dass der Mensch auf die Narrenbühne der Welt als „armes, nacktes, zweigebeintes Tier“ gestellt wird, dem von allem, was es auf dem Lebensweg erwirbt, nichts wirklich gehört. Nur die grenzenlose Einsamkeit und der Zustand des Wahnsinns sind des Menschen ganzer Besitz. Zur Bestätigung dieser heillosen Diagnose türmt Edmund am Ende die entseelten Leiber des Königs und seiner Töchter samt den vererbten Besitztümern wie einen Scheiterhaufen in der Bühnenmitte zusammen.
Viel Beifall vom Premierenpublikum für eine sehr konsequente, durchaus überzeugende Variante des uralten, von ernüchternden Wahrheiten erfüllten König Lear-Mythos.
http://roedigeronline.de