Zum Inhalt: Großes politisches Musiktheater! Der Glaube des Komponisten Luigi Nono an die Macht der Kunst war groß und ist es wert, nicht zuletzt in Zeiten wie diesen, überprüft zu werden. Eine Ermutigung, die Stimme da zu erheben, womit wir uns nicht abfinden wollen.
Ein Gastarbeiter flieht aus dem Moloch einer Bergarbeitersiedlung. Seine verständnislose Frau lässt er zurück und gerät auf der Suche nach dem Heimweg in politische Unruhen, wird schuldlos verhört, gefoltert und in ein Konzentrationslager gesperrt. Er erlebt Brutalität und Willkür, auch Solidarität. Kann fliehen, will kämpfen, gegen die Ungerechtigkeit, findet Halt in der Liebe einer Gefährtin. Schließlich strandet er in einem Dorf, das von den Fluten eines Hochwassers fortgerissen wird. Die letzten Worte des Chors stammen aus dem Gedicht von Bertolt Brecht An die Nachgeborenen: »… ihr, wenn es soweit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, gedenkt unsrer mit Nachsicht.« Für die Inszenierung an der Komischen Oper Berlin verfasste die Kriegsberichterstatterin, Publizistin und Autorin Carolin Emcke den Essay »Es ist genug«.
Musikalische Leitung: Gabriel Feltz Inzenierung: Marco Štorman Bühnenbild: Márton Ágh Kostüme: Sara Schwartz Dramaturgie: Johanna Wall Chöre: David Cavelius Licht: Olaf Freese
Das zweite Kraftzentrum neben dem Eiswüsten-Bühnenbild ist der Gastauftritt von Ilse Ritter. Diese prägende Schauspielerin der vergangenen Jahrzehnte ist nur noch selten zu erleben. Carolin Emcke, politisch engagierte Essayistin und Friedenspreisträgerin, hat ihr einen Text geschrieben, der von Schmerz und Leid in Zeiten von Flucht und Krieg erzählt. Zwischen all dem Wimmern, Jammern und Zirpen von Luigi Nonos atonaler Komposition sind ihre kurzen Auftritte ein ruhender Pol. Jede Silbe ist glasklar artikuliert und bedeutungsvoll-empathisch vorgetragen, ihre „unnachahmliche Grandezza aus rollendem R und Wiener Singsang“ (Georg Kasch auf Nachtkritik) füllt den Raum.
Jenseits des Bühnenbilds und des glamourösen Gastauftritts ist der Abend ein alles andere als leicht zu konsumierender Abend. Die atonalen Klänge und schmerzverzerrten Gesichter des Chores schaffen eine dystopische Grundstimmung. Assoziativ erzählt „Intolleranza 1960“ von politischen Missständen seiner Entstehungszeit, geschult an Antonio Gramsci und Bertolt Brecht.
Die Premiere fand an einem Wochenende, an dem viele junge Russen auf der Flucht vor einer drohenden Zwangsrekrutierung sind und in Italien ein Bündnis der Berlusconi-Partei mir Neofaschisten die Mehrheit gewann. Die Themen von „Intolleranza 1960“ haben also traurige Aktualität. Dennoch wirkt diese Oper und Marco Štormans Inszenierung in ihrer eisigen, schneiden Kälte sehr fern.
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''Das Musikalische verantwortete der Dortmunder Generalmusikdirektor Gabriel Feltz, dem man hierzu ein Dirigier-Gerüst gebaut hatte, von dem aus er - in Höhe des 2. Ranges - das erheblich aufgestockte Orchester der Komischen Oper Berlin rechter- wie linkerseits unter Kontrolle hielt. Im Programmheft lässt er wissen, dass die Nono-Oper "einer der großen Klassiker nach 1945 [ist] und einfach regelmäßig gespielt werden [muss]". Das mag so stimmen, wenn auch nur rein musikalisch, denn der Schönberg-Schwiegersohn legte sich seiner Zeit kräftig ins Zeug, um "seinen" Zwölfton nicht weniger ordentlich als den des Schwiegervaters zu komponieren.
Was uns Nonos Intolleranza heute - jedenfalls, was meine persönliche Rezeption betrifft - noch sagen könnte, wäre wohl nicht allzu viel. Das Appellarische in ihrem Grundton, dieser vorwurfsvolle Dauer-Zuruf an uns unbeteiligte Beteiligte und jene klassenkämpferischen Muss-Parolen (Tod dem Faschismus! usf.): alles unterschreibbar, ja, natürlich - aber alles nicht unter die Haut gehend, fast unemotional. Und mit Appellen und Parolen war und ist dem menschlichen Bewusstsein nie so richtig beizukommen gewesen. Katharsis? Fehlanzeige. Am Sonntagabend werden allen bisherigen Umfragen zufolge die profaschistischen "Brüder Italiens" die Parlamentswahl gewinnen, um ein Beispiel dafür zu nennen, wie es mit dem menschlichen Bewusstsein derzeit so bestellt ist...'' schreibt Andre Sokolowski am 24. September 2022 auf KULTURA-EXTRA