Zum Inhalt: «Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.» So klar steht es geschrieben im Ersten Gebot des Alten Testaments. Bei Gott gibt es keine Zweifel, er*sie ist unmissverständlich und klar. Anders als der Mensch. Beim Menschen ist nichts gegeben und nichts ist unmissverständlich. Immer gibt es ein Für und ein Wider, immer gibt es zahlreiche Möglichkeiten und Wege. Seit einigen Wochen können Politik und Bürger*innen weltweit diese existentielle Unklarheit, diese moralische Vieldeutigkeit des Lebens nicht mehr durch alltägliche Routine verdrängen. Täglich müssen sie Entscheidungen treffen über Nächstenliebe, Freiheit und Respekt, über Gemeinschaft und Liebe. Letzten Endes über Leben und Tod.
Wie es dem Vieles denkenden Menschen angesichts der Klarheit von Gottes Geboten geht, hat der polnische Filmregisseur Krzysztof Kieślowski Ende der 1980er Jahre in den zehn Episoden seines Dekalogs untersucht. Hausregisseur Christopher Rüping nimmt diese Filme nun als Vorlage für ein Theaterprojekt ohne Theater. In einem Moment, wo Menschen sich nicht mehr in Theatern versammeln dürfen, verlagert Christopher Rüping seine Inszenierung ins Internet – und damit die Funktion des Theaters, durch Anschauung und Spiel den moralischen Kompass zu schärfen und sich gemeinsam über Werte und Masstäbe zu verständigen. In den zehn Folgen seiner Theaterinszenierung für den digitalen Raum wird er in den nächsten drei Wochen zusammen mit dem Ensemble des Schauspielhauses Zürich fragen, was richtig und was falsch ist. Sie direkt wird er fragen. Sie, das Publikum. Und Sie werden antworten können und entscheiden. Und Sie werden sehen, welche Konsequenzen Ihre Entscheidungen haben. Wie im echten Leben. Oder eben im Internet. Aber wo ist da schon der Unterschied.
Auch Thomas Wodianka, der am Gorki Theater zum Beispiel mit seiner „Small Town Boy“-Wutrede zeigte, dass er ein Meister des Monologs ist, kann in diesem Format nicht bestehen. Im Plauderton verliert er sich zwischen Sichtbeton, seinem Sohn Paul, dem Animationsfilm „Finding Nemo“, Christopher Walken, Eiskunstlauf und seinen regelmäßigen Gängen zum Kühlschrank. Seinem Monolog fehlt jeder Ansatz eines Feinschliffs und er ist dermaßen öde, dass sich die munter vor sich hinschnatternde Crowd im Live-Chat lieber mit sich selbst beschäftigt. Die beiden einzigen spannenden Fragen der Auftaktfolge sind: Wann stürzt die Technik zum nächsten Mal ab? Und wann säuft Paul so ab wie das gesamte Format?
Technisch unausgereift und dramaturgisch öde schleppt sich die erste Stunde dahin. Als Fazit bleibt die Erkenntnis, wie kratertief die Lücke zwischen diesem Experiment und einem gelungenen Bühnen-Live-Erlebnis klafft.
Komplette Kritik mit Bildern
''Wodianka tigert ununterbrochen in einem leeren weißen Bühnenkasten hin und her. Nur ein Kühlschrank, aus dem er ein Coke nach der anderen holt, und die Schlittschuhe des Sohns dienen hier als zusätzliche Requisiten. Der Momolog geht vom Family-Filmtag mit Finding Nemo bis zum von bösen Visionen („The Ice gonna break“) geplagten Christopher Walken aus The Dead Zone. Das mögliche Unheil kann der Vater aber weder durch Nutzung der Sprachapp noch durch Publikumsentscheidung abwenden. Ist hier nun die Technik oder das Publikum der Gott, der wie das goldene Kalb angebetet wird? Da mag man nach diesen ersten recht konfusen 45 Minuten nicht wirklich entscheiden. Da herrscht einen Tag später im Teil 2, in dem Schauspielerin Karin Pfammatter dann tatsächlich eine sogenannte „Gott in Weiß“ spielt, schon etwas mehr Klarheit. „Du sollst nicht Gott spielen“ steht nun als Diktum auf dem Programm.
Karin Pfammater spielt das dann zunächst auch ganz in Weiß mit Rauschebart und Stimme aus dem Off, als würde Gott höchstpersönlich das Gedankenspiel betreiben. Wer die Dekalog-Filme kennt, findet hier den Plot einer Frau in Nöten fast eins zu eins wieder. Jene Frau besucht den Arzt ihres hoffnungslos an Krebs erkrankten Mannes und fragt ihn nach den Chancen seiner Genesung. Sie erwartet das Kind eines anderen und will es abtreiben, falls der Arzt ihr nicht den nahen Tod ihres Mannes bestätigen will. Ein echtes moralisches Dilemma also, das die hier allein lebende Ärztin in die Rolle eines über Leben und Tod des ungeborenen Kindes entscheidenden Gottes drängt.
Abgenommen wird ihr das durch die an das Publikum delegierte Frage nach Lüge oder Wahrheit. Eine in seiner Dimension schon etwas anspruchsvollere Entscheidung, die hier durchaus verschieden ausfallen könnte. Live wird man das allerdings nicht mehrmals durchspielen können. Die Folgen sind nach der ersten Ausstrahlung auch nicht mehr als Konserve abrufbar. Zu hoffen bleibt, dass dieser Versuch einer Online-Interaktion mit dem Publikum immer wieder neu und besser an die jeweilige Situation angepasst und auf auftretende Probleme reagiert und entsprechend nachjustiert werden kann.'' schreibt Stefan Bock am 20. April 2020 auf KULTURA-EXTRA