Kritik
Zuerst ist es ein ganz kleiner Teppich, den die Großmutter Stasia (Barbara Nüsse) ausbreitet und wie neu aussehen lassen möchte. Die Menschen seien wie einzelne Fäden. Zusammen ergäben sie eine kleine Verzierung, doch mit vielen anderen Fäden zusammen ergäben ein Muster. Das erklärt die Großmutter der neugierigen Niza (Lisa Hagemeister).
Später wird sich immer ein längeres Stück Teppich von der großen Rolle, die wie ein riesiger Felsbrocken über dem Geschehen hängt, abrollen. Zuerst wirkt es noch wie ein Wandteppich, dann wie begrenzende Wand oder Projektionsfläche und schließlich wie ein alles bedeckender, blutroter Untergrund auf der gesamten Bühne. Zum Schluss wird er von der Bühnenfläche hinabrutschen und den Raum für Brilka freimachen, die jüngste Tochter der Familie. Eine elfjährige eigenwillige Tänzerin, die nun ihre Choreographie des Lebens aufführen kann.
Für diese Brilka, ihre Nichte, schreibt Niza die Geschichte ihrer Familie auf. Sie dokumentiert damit auch über 100 Jahre Geschichte Georgiens und die ihrer Familie über fünf Generationen. Sie beginnt kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges und endet in der Zukunft.
Nina Haratischwili hat sie in ihrem 1200 Seiten starken Roman „Das achte Leben“ zu Papier gebracht. Sie spannt einen riesigen Bogen. Regisseurin Jette Steckel tut es ihr auf der Bühne des Thalias nach. Sie lässt keinen Handlungsstrang des Romans aus, so kommt sie auf gute fünf Stunden Theater. Wo Haratischwili viele Worte macht, nutzt Steckel Bilder und Bewegungen. Sie sich nimmt wie die Autorin die Zeit und Aufmerksamkeit für die starken Frauenfiguren in dieser Familie, die in dem immer diktatorischer werdenden System Georgiens unter Stalin zurechtfinden müssen. Sie müssen sich zwischen Glaube an die Ideale des Kommunismus, der Verfolgung, der Anpassung und des Widerstands positionieren. Während die Männer in ihren Ämtern häufig dazu neigen, sich dem System anzupassen oder sogar anzudienen, lavieren die Frauen eher zwischen kritischer Distanz und Nutznießung der Stellung der Männer für ihren Widerstand im Kleinen. Durchkommen und dabei nicht ganz das Gesicht und die Selbstachtung zu verlieren, ist hier das nicht ganz einfache Ziel.
Steckel stellt sich ganz in den Dienst des Romans. Sie adaptiert ihn mit den Mitteln des Theaters. Die Ausführlichkeit des viel gerühmten Textes transformiert sie in ähnlicher Qualität für die Bühne. Es gibt kaum Längen in der Inszenierung. Sie hat dazu hervorragende Schauspieler zur Verfügung. Doch vor allen beeindruckt Mirco Kreibich. Von Beginn an ist er als Brilka mit auf der Bühne. Als frühreife Künstlerin will sie das Leben ihrer Familie als Tanzstück zur Musik ihrer Tante auf die Bühne bringen. So dreht Kreibich als Brilka schon zu Beginn seine Runden im Petticoat zu Jeans und Pullover und schlüpft parallel in zahlreiche Nebenrollen, bis Brilka zum Schluss nach ihrer Flucht nach Holland auf der Bühne den Raum für ihren berührenden Tanz bekommt. Das achte Leben von Brilka vervollständigt (vorläufig) das Muster des Lebensteppichs. Wenn auch jede der Frauenfiguren auf der Bühne für einen ganzen Theaterabend gereicht hätten, ergab diese lange Reihe von Geschichten einen besonderen Reiz. Der lange Atem von Autorin, Regie, Darstellern und Publikum hat sich gelohnt.
Birgit Schmalmack vom 11.7.17
www.hamburgtheater.de