Zum Inhalt: Leidenschaft, Trunkenheit, Wahnsinn, das sind die bestimmenden Gefühle des Sturm und Drang, die in den Leiden des jungen Werther, des jungen Goethe, ihren Ausdruck finden. Ablehnung alles Gewöhnlichen, Sehnsucht nach Innerlichkeit und die unumgängliche Erkenntnis eines notwendigen Aufbruchs bestimmen Werther, infizierten die junge Leserschaft von einst derart, dass das Werk zeitweise verboten war, und sind den späteren Romantiker:innen initiale Gefühle. Die von Werther beschworene und schmerzlich empfundene Lücke zur Welt, nimmt der französische Regisseur Julien Gosselin zum Gegenstand seines Theaterabends und nähert sich der Deutschen Literaturgeschichte allein zeitlich gesehen aus großer Distanz. Literatur wird zum dramatischen Werkzeug, anhand dessen sich die Lücke zur Welt der Vergangenheit gerade nicht schließen lässt.
Mit: Hendrik Arnst, Benny Claessens, Rosa Lembeck, Emma Petzet, Victoria Quesnel, Marie Rosa Tietjen, Martin Wuttke
Regie: Julien Gosselin Bühne: Lisetta Buccellato Kostüme: Caroline Tavernier Lichtdesign: Nicolas Joubert Musik: Guillaume Bachelé, Maxence Vandevelde Videodesign: Pïerre Martin Oriol, Jérémie Bernaert Videoschnitt: Verena Buttmann Kamera: Richard Klemm, Gian Suhner Tonangel: Jonathan Bruns Dramaturgie: Eddy Daranjo, Johanna Höhmann
''Etwas aufgelockerter ging es - weit vor dem großen Essen, dass dann Goethe seinem alten Lott'chen im Weimarer Haus am Frauenplan ausrichtete - in einem griechisch anmutenden Intermezzo zu, wo Wuttke (immer noch als Aschenbach?) von Claesens, Lembeck und Petzet (als antike Musen) umschwirrt wurde und höchstwahrscheinlich aus noch einem andern Text als den von mir bis dahin identifizierten Goethe-Werther, Lotte in Weimar oder Tod in Venedig zitierte. Als ein Manko (nicht nur des Besetzungszettels) muss bezeichnet sein, dass keine Quellen, woraus dann das eine oder andere Gesprochene tatsächlich stammte, angegeben sind; aber wahrscheinlich kann sich zwischenzeitlich jeder X-Beliebige schlussendlich auch von dem bedienen, was urheberrechtlich eigentlich nicht geht; angeblich wäre auch ein Text Ernst Jüngers mit dabei gewesen; ganz am Anfang waren auf der Video-Leinwand in der Mitte all die Namen jener, die im Nachhinein zitiert würden, kurz eingeblendet, und das wars auch schon.
Apropos STURM UND DRANG: Inkontinenzanfällige sollten auf den Besuch möglichst verzichten, selbst wenn sie dem Bildungsbürgertum hinzuzurechnen wären und sich daher für Zitat-Vergleiche wohlwollend interessierten. Die Aktion an sich - selbst für so Blasendruckverhalter als wie mich - war handwerklich vollkommen, in der Absicht aber völlig sinnlos.'' schreibt Andre Sokolowski am 4. Juni 2022 auf KULTURA-EXTRA
Castorf/Neumann-Epigonentum und Literatur-Nerd-Theater
2 Jahre her.
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Kritik
Ganz wie früher! 3,5 Stunden ohne Pause sitzen wir an diesem Sommerabend im Theater und sehen vor allem: Film. Die Live-Kamera-Leute wuseln über die Szenerie (Bühne: Lisetta Buccellato), die vor allem aus einem Gothic-haften, heruntergerockten Imitat des legendären Weimarer Hotel Elephant besteht, in dem Hendrik Arnst als zwielichtiger Concierge Mager sein Unwesen treibt. Auf drei Leinwände wird das Geschehen projiziert, am spannendsten sind natürlich die kurzen Passagen im letzten Drittel, als wir dem Team in die verwinkelten Kellerflure der Volksbühne folgen.
Viel Nostalgie und Retro bietet Julien Gosselin, der in den 2010er Jahren als Wunderkind des französischen Theaters gefeiert wurde und mit „Sturm und Drang – Geschichte der deutschen Literatur I“ erstmals auf einer deutschen Bühne inszeniert. Der Abend ist geprägt von Epigonentum und Verehrung für die stilprägende Ära von Frank Castorf und Bert Neumann. Irgendwann werden per Name-Dropping auch all die anderen großen Namen aus der Geschichte der Volksbühne heruntergerattert: die Schlingensiefs, die Bessons, die Marthalers.
„Sturm und Drang“ ist nicht nur für Castorf/Neumann-Nostalgiker, sondern auch ein Fest für Literatur-Nerds, die Spaß daran haben, nachzuspüren, wie hier die Textstellen zusammengepuzzelt werden, und sich an den Anspielungen erfreuen. Tief hat sich Gosselin in die Werke eingegraben. Im knappen Programmblättchen erzählt er von seiner Faszination für diese „tote Materie“, die er wie ein Archäologe durchwühlt und dabei die Scherben seiner Fundstücke neu zusammensetzt. In der ersten Hälfte hat dies durchaus Raffinesse und liegt über dem Niveau banaler Soaps und schludriger Stückentwicklungen, mit denen wir viel zu oft in dieser Spielzeit konfrontiert waren. Aber das Problem des Abends ist, dass diese Art von selbstreferentiellem Literatur-Nerd-Theater spaltet: einige jubeln, aber die Absprungrate Richtung Saaltür war so hoch wie zuletzt nur bei Christopher Rüpings Theatertreffen-Eröffnung: der auf Twitter vieldiskutierte Publikumsschwund und seine Ursachen lassen sich am besten doch live studieren.
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