Zum Inhalt: Vor neun Monaten hat Russland der Ukraine einen verbrecherischen Krieg erklärt. Der Staat hat Hunderttausende Zivilisten in den Krieg geschickt. Zum Töten. Zum Sterben. Wie kann einer einfach ein Maschinengewehr in die Hand nehmen und losschießen? Wie einem anderen Menschen das Leben nehmen? Kann es irgendeinen Grund geben, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen? Wie ist es möglich, der bodenlosen Propaganda Russlands Glauben zu schenken? Wie kann jemand überhaupt durch Krieg Geld verdienen wollen? Wie ist das alles möglich?
Ein junger Schauspieler, der sich vor der Mobilisierung in Moskau versteckte, hat mir erzählt, dass er spät am Abend in einen Laden ging, um Lebensmittel einzukaufen. An der Kasse traf der Schauspieler, der eine stylische Brille trug, auf einen Mann, der ihn erst unfreundlich ansah und dann plötzlich anschrie: „Na, hast du Angst zu kämpfen, du Arschloch?“ Mein Bekannter antwortete ihm ehrlich: „Ja. Ich kann einen anderen Menschen nicht angreifen, geschweige denn töten. Ich verstehe nicht, wie das überhaupt möglich ist.“ Daraufhin antwortete der Mann, der offenbar bereits zurück von der Front war, gelassen: „Scheiß dir nicht in die Hose! Schließ die Augen und drück ab! Es ist alles ganz einfach. Schließe die Augen...“ Schließe die Augen! Als ich diese Geschichte hörte, dachte ich, sie sei eine Art Epigraph für unsere Aufführung.
Regie, Bühne, Kostüme: Kirill Serebrennikov Mitarbeit Bühne: Elena Bulochnikova Kostüme: Shalva Nikvashvili Musik: Daniel Freitag Choreografie: Ivan Estegneev, Evgeny Kulagin Licht: Sergej Kuchar Künstlerische Mitarbeit: Anna Shalashova Dramaturgie: Matthias Günther
Düster und brutal sind diese zwei Theaterstunden, in denen Kirill Serebrennikov vom Krieg erzählt. Filip Avdeev, einer seiner Stammspieler aus dem mittlerweile geschlossenen Gogol Center, kauert auf dem Boden und wird von einem Trio malträtiert. Johannes Hegemann (Nachwuchsschauspieler des Jahres) und Oleksandr Yatsenko (Gast aus der Ukraine in dieser bewusst transnational angelegten Inszenierung des Thalia Theaters) überbieten sich in Grausamkeiten, die sie ihrem Opfer antun möchten. Pascal Houdus greift mahnend ein und versucht, die schlimmsten Exzesse abzumildern.
In der spielerisch eindrucksvollsten Szene des Abends baumelt das Trio, das wir schon zu Beginn erlebten, an Klettergerüsten, zieht sich mit Klimmzügen hoch, hängt kopfüber nach unten und presst weitere Erzählungen von Folter und Krieg hervor. Einige Drill-Instructor-Einheiten von Serebrennikows bewährtem Choreographen-Duo Ivan Estegneev und Evgeny Kulagin waren nötig, um das Ensemble auf das Fitness-Level zu bringen, diese Tour de Force durchzustehen, erzählte das Team beim gestrigen Nachgespräch.
„Der Wij“ ist ein fordernder Abend, der sehr drastisch und zugleich symbolisch-rätselhaft von Krieg und Gewalt erzählt. Es wundert mich, dass die Theatertreffen-Jury diese Inszenierung nicht auf der Shortlist für die engere Diskussion der 10er Auswahl hatte.
''Was nun folgt, ist kein gruseliger Hexen-Sabbat sondern ein Spiel nach Shakespeare-Versen der drei Brüder mit der toten Schwester im Arm. Das wirkt recht surreal und auf den gefangenen Soldaten nicht minder verstörend. An Kletterwänden hängend erzählen die drei Brüder auch von Folterlagern und Erschießungskommandos. Der weiterhin stumme Soldat wird wie auch das Publikum einer gnadenlosen Psychofolter unterworfen. Auch das tote Mädchen spricht mit dem Soldaten. Seine Schuld wird ihm hier vor Augen geführt. Später tritt auch noch die Mutter (Viktoria Miroshnichenko) des Soldaten auf. Ein Monolog der Rechtfertigungen und Anweisungen an den Sohn, so zu sterben, dass er noch identifiziert werden kann und die Mutter Sterbegeld erhält.
Die DarstellerInnen sprechen nicht nur deutsch, sondern auch russisch und ukrainisch, was nicht in Übertiteln übersetzt wird, aber dennoch durch Wiederholungen in deutscher Sprache klar wird. Serebrennikow überträgt Gogols Geistergeschichte in die unmenschliche Barbarei des Krieges. Das ist zumeist nicht sehr subtil aber durchaus wirksam. Die Bewegungen sind wie zumeist bei seinen Inszenierungen stark choreografiert. Auch Live-Musik wird von den DarstellerInnen gespielt. Die Erscheinung des Wij in der Figur des Vaters mit Blindenbrille gerät dann zur bösen Farce, bei der Bernd Grawert einen zynische Witze reißenden und Beifall einfordernden Conférencier des Todes gibt. „Ich gehe dorthin, wohin ich gerufen werde.“ In den zwei intensiven Stunden kann einem schon mal der Atem stocken. Und auch der Soldat erhält am Ende sich auf dem Sargdeckel windend noch seine Sprache zurück. Ein Bündel Elend, fürs Vaterland zum Mitmachen gezwungen. Beifall mag man da nicht mehr zollen, was auch explizit nicht erwünscht ist. Dennoch sei dieser Abend empfohlen.'' schreibt Stefan Bock am 6. Dezember 2022 auf KULTURA-EXTRA