Zum Inhalt: Ende der 1950er Jahre arbeitet Heiner Müller an einem Stück über Bodenreform und Kollektivierung in der Landwirtschaft der frühen DDR, ein Auftrag des Deutschen Theaters. Die Widersprüche, von denen er in einer eminent formbewussten Sprache erzählt, sind schwindelerregend, unversöhnt stehen die neue Zeit und das alte „Leben auf dem Lande“ nebeneinander. Müllers Blick auf die Protagonisten ist mitleidlos, seine Komik lässt keinen ungeschoren, und zugleich erscheinen am Horizont, nicht zuletzt über die Titelfigur, Umrisse eines neuen Menschen, einer anderen, solidarischen Art und Weise miteinander zu leben.
Die Uraufführung der „Umsiedlerin“ an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst 1961 wird zum größten Theaterskandal der DDR. Der Schriftstellerverband schließt Müller aus, Regisseur B.K. Tragelehn muss zur Bewährung in den Braunkohletagebau. Erst 1976 darf das Stück in der DDR wieder gespielt werden. Nun, fast 60 Jahre nach der Uraufführung, holen Tom Kühnel und Jürgen Kuttner „Die Umsiedlerin“ in die Kammerspiele des Deutschen Theaters und in eine Zeit, in der die Fragen, die Müllers Text stellt, unerhörter sind denn je.
Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner Bühne: Jo Schramm Kostüme: Daniela Selig Dramaturgie: Claus Caesar
''Almut Zilcher bricht das Schweigen und spricht mit Grabesstimme eine Passage aus "Mommsens Block", ein Langgedicht, das Heiner Müller 1992 verfasst hat: Die Mauer ist gefallen, der Sozialismus zerbrochen, die alte Welt liegt in Scherben, eine neue ist noch nicht erkennbar. Die Geschichte scheint sich ewig im Kreis zu gehen, immer nur neue Kriege und neue Gesellschaften, die auf den Schultern der Alten und Toten stehen und auf ihren neuerlichen Untergang zusteuern.
Sich an Theodor Mommsen erinnernd, der sein Werk über die römische Kaiserzeit nicht fertig stellte, versucht Müller seine Schreib- und Denk-Blockade zu überwinden und sich damit abzufinden, dass die Geschichte der Menschen immer nur eine Geschichte der Katastrophen ist und die Geschäftemacher und Profiteure schon wieder in den Startlöchern sitzen, um neue Reiche aufzubauen und neues Unheil anzurichten. Während Almut Zilcher diese Zeilen spricht, kann man eine Stecknadel fallen hören: Weder vor noch nachher erreicht die Inszenierung auch nur annähernd diese aktuelle und schockierende Dringlichkeit. Schade.'' schreibt Frank Dietschreit auf kulturradio.de
Dieses Auftragswerk hat 1961 unmittelbar nach dem Mauerbau Theatergeschichte geschrieben: „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ zeigte die Schattenseiten der mit großen Hoffnungen gestarteten Bodenreform, die in der Zwangskollektivierung endete, derart unverblümt, dass Heiner Müllers Stück sofort nach der Premiere als „konterrevolutionär“ gebrandmarkt und verschwand im Giftschrank.
Jahrzehnte nach dem damaligen Skandal grub das Deutsche Theater Berlin sein Auftragswerk wieder aus. Jürgen Kuttner, der eloquente Radio-Moderator und Schnipsel-Conferencier, ist prädestiniert für einen so geschichtsträchtigen Stoff. Leider macht er im bewährten Regie-Duo mit Tom Kühnel nichts daraus.
Der Theaterskandal und all die Wogen, die das Stück damals schlug, werden in „Die Umsiedlerin“ in den DT-Kammerspielen nicht thematisiert. Mit einem rote Fahnen schwenkenden Chor, ironisch eingesetzten Schlagern aus Ost und West und mit einem Intro, das die viel zu euphorischen Zukunftsprognosen aus den 1960er Jahren über technologische Fortschritte referiert, beginnt der Abend vielversprechend. Kuttner/Kühnel bieten nur einen zähen Aufguss des alten Stoffes, über dessen damals brisante Konflikte die Zeit zum Glück längst hinweggegangen ist.
Wie ein Fremdkörper wirkt Frank Büttner, dessen Stimm-Organ aus langen Castorf-Schlachten gestählt ist und der hier mehrmals losbrüllen darf. So begabte Spieler*innen wie Bernd Stempel und Linda Pöppel bleiben blass. Die Studierenden der UdK werden im Chor oder als weiße Gewänder tragende Statistinnen eingesetzt. Almut Zilcher bekommt einen großen Monolog, der aber mit der „Umsiedlerin“ nichts zu tun hat, sondern aus „Mommsens Block“, einem Spätwerk von Müller, stammt. Ähnlich unmotiviert wird auch ein Interview mit Rainer Werner Fassbinder eingespielt, der genervt auf die Fragen seines Gesprächspartners reagiert. Am interessantesten ist noch der Effekt, als Müllers O-Ton aus einer Lesung – wie in Kuttners/Kühnels „Der Auftrag“-Inszenierung – eingespielt wurde und Almut Zilcher damit in Dialog trat.
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''Der mehr oder weniger zum Einsatz kommende und sicherlich nicht unabsichtlich vorgeführte Agitprop-Sound (mit gelegentlichen Anleihen von Einar Schleef'scher Chorsinfonik) untermauert nicht von ungefähr, dass die dem Stück zugrunde liegende Polemik zwar für all die Hörer/Leser, die die damalige Zeit erlebten oder wenigstens von ihr auch irgendwas dann (ideologisch) mitbekamen, auch nach über 60 Jahren "gültig" ist - für Zeitgenossen unsrer Tage, die einzwei Generationen darauf folgen sollten, wirkt das Ganze nur noch schulaufklärerisch und driftet ab zu einer bloßen Ostalgie.
Es gibt paar sehens- und auch hörenswerte Leuchtturm-Blinksignale dieser eigentlich doch ziemlich leichtwollig und großmaschig gestrickten Inszenierung; hierzu zählt v.a. die ironische Verfünffachung der Titelrolle, die als leise vor sich hin säuselndes und in vollständigem Weiß (Kostüme von Daniela Selig) eindrapiertes Griechinnenquintett Hausfrau-Repliken von sich sondert; Utensilien wie Der Kochtopf, Der Bierkrug oder Der Wäschekorb tragen nicht unerheblich zur vermuteten Vermutung bei.'' schreibt Andre Sokolowski am 7. April 2019 auf KULTURA-EXTRA