Kritik
Die Figur des Angelo steht im Zentrum dieser Shakespeare-Überschreibung: Jirka Zett legt ihn als ebenso glamouröse wie lächerliche Figur an. Den Konflikt, in dem diese Hauptfigur feststeckt, unterstreicht Annabelle Witt mit dem Kostüm, das sie für ihn schuf. Als Oberteil trägt Zett ein Korsett aus Rüschen, das er ebenso demonstrativ vor sich herträgt wie seine Phrasen von der Rückbesinnung auf Werte und der Wiederherstellung der Ordnung. Unten trägt er eine plüschige Mischung aus Hotpants und Windeln, ansonsten nur noch Stiefel, mit denen er lasziv-langbeinig herumstakst.
Zetts Angelo kämpft mit seiner Notgeilheit, die er hinter seiner frommen, rechtstreuen Fassade nicht einmal notdürftig verstecken kann. Diese Zerrissenheit seines Charakters arbeitet Zett in den Schlüsselszenen des Abends sehr gut heraus. Seine Meisterin findet er allerdings in Isabelle (Lisa-Marie Sommerfeld), die seine Nötigung, dass er gegen Sex ihren verhafteten Bruder wieder freilassen wird, einfach auflaufen lässt.
Zu spät merkt dieser Angelo auch, dass er nur ein Strohmann war. Die Fäden hält die ganze Zeit über eine andere Person zusammen: der Herzog, der bei Pucher/Melle in wie schon beim Münchner „König Lear“ konsequent-feministischer Lesart weiblich ist und von Lisa Hagmeister im Blümchenkleid verkörpert wird. Überdeutlich spielt diese Figur auf Angela Merkel an: nach anderthalb Jahrzehnten ist sie amtsmüde und hat den Zenith ihrer Popularität überschritten, kann aber nicht beruhigt abtreten: ihre Nachfolger haben nicht ihr Format, sondern sind im schlimmsten Fall Würstchen wie Angelo und das Volk handelt auch zu oft unvernünftig. In der Genervtheit von Hagmeisters Herzogin ist der Frust wiederzuerkennen, der Angela Merkel in einigen bewusst durchgestochenen Zitaten wie „Öffnungsdiskussionsorgien“ aus den Ministerpräsident*innen- und Präsidiumsrunden und bei den anschließenden Pressekonferenzen deutlich anzumerken war.
So ist die „Maß für Maß“-Abend über weite Strecken nicht nur Parabel toxischer, übergriffiger Männlichkeit, sondern auch Corona-Kabarett. Ein „schwedischer Odem“ zieht sich leitmotivisch als Gefahr durch den Abend. Mit ihm begründet Angelo sein strenges, lustfeindliches Argument. In langen Monologen karikiert er das Verwaltungsdeutsch der Verordnungen, die genau festlegen, wie viele Haushalte sich unter welchen Umständen verordnen dürfen. In den besseren Momenten ist dieses Corona-Kabarett eine unterhaltsame Auseinandersetzung mit Querdenker*innen und Bill Gates-Verschwörungs-Theoretiker*innen, in seinen schlechteren Passagen gleitet der Abend in Kalauer und Zoten ab.
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