Für manche Auguren sind konzertante Opernaufführungen überhaupt die Präsentationsform der Zukunft. Zwar wäre eine solche Entwicklung wohl für das Berufsbild der Kostümschneider und Maskenbildner ziemlich verheerend, aber sie könnte ein Ausweg sein, wenn Opernhäuser eines hoffentlich fernen Tages auf öffentliche Zuschüsse und finanzkräftige Sponsoren verzichten müssten.
Die konzertante Premiere von Francesco Cileas Oper „L’Arlesiana“ in der Deutschen Oper Berlin offenbarte aber noch in anderer Hinsicht die Ambivalenz einer weiteren Eigenart konzertanter Aufführungen: es entfällt die Notwendigkeit, für eine als szenisch problematisch empfundene Handlung eine bühnenwirksame Realisierung zu finden, die nicht wieder als „Regietheater“ vom Publikum abgelehnt wird. Die konzertante Praxis ist solchen Zwängen nicht ausgeliefert und kann sich ganz der musikalischen Gestalt des wiederzugebenden Werkes widmen. Mag die Presseresonanz hierauf etwas geringer sein: Ein reines, ungetrübtes Vergnügen ist von einem solchen Ereignis vielleicht sogar eher zu erwarten als von einer allzu streitbaren Inszenierung.
Cileas „L’Arlesiana“ wurde 1897 in Mailand uraufgeführt und erlebte danach mehrere Bearbeitungen. Aus den zunächst vier Akten wurden drei, und 1912 entstand eine dritte Fassung mit Ouvertüre, die nun auch in Berlin zu hören war. Alles Bemühen des Komponisten hat aber die Aufführungspraxis nicht wesentlich beleben können, so dass die musikalisch durchaus fesselnde, stilistisch in Puccini-Nähe angesiedelte Partitur seither vor allem konzertant zu hören ist.
Das liegt gewiss zu einem Teil an der für den heutigen Geschmack etwas verstiegen wirkenden Handlung, die auf ein Sujet von Alphonse Daudet zurückgeht. Rosa Mamai hat zwei Söhne: den geistig zurückgebliebenen jüngeren L’innocente und Federico. Letzterer ist unsterblich in ein Mädchen aus Arles verliebt, über deren Lebenswandel zunächst nichts weiter bekannt ist. Mutter Rosa favorisiert aber Vivetta, die ihrerseits Federico liebt. Rosa bittet ihren Bruder Marco, etwas über die geheimnisvolle Arlesierin herauszufinden, und der legt daraufhin seiner Schwester nahe, den Heiratsplänen Federicos zuzustimmen. Ein Liebhaber der Arlesierin namens Metifio stellt seiner Geliebten allerdings ein schlechtes Zeugnis aus, worauf Federico zutiefst betroffen reagiert.
Der alte Schäfer Baldassare, ein Freund der Familie von Rosa Mamai, rät Federico, seinen Kummer durch Arbeit zu vertreiben, was dieser aber ablehnt. Vivetta
gesteht ihm ihre Liebe, und Federico wendet sich vom Traumbild der entfernten Arlesierin ab und will nun Vivetta heiraten. Metifio taucht auf und plant, die leichtlebige Arlesierin zu entführen. Nachts wacht L’innocente auf und ist auf einmal klaren Geistes. Stattdessen verdunkelt sich das Seelenleben von Federico: er meint in seinem Wahn, die Entführung der Arlesierin zu sehen, klettert auf den Heuboden und stürzt sich dort aus dem Fenster.
Die konzertante Aufführung in der Deutschen Oper stand unter einem denkbar glücklichen Stern und kompensierte durch die musikalische Perfektion alle Bedenken, die sich gegen die streckenweise etwas unglaubwürdige Handlung wenden mochten. Ein wesentlicher Angelpunkt der klugen Klangregie war der Dirigent Paolo Arrivabeni, der gleich mehrere Tugenden eines hervorragenden Operndirigenten miteinander verband: gründliche Partiturkenntnis, ausgeprägten Sinn für die Erfordernisse der Klanggestaltung und eine wohldosierte, ökonomische Zeichengebung, die immer noch Reserven für entscheidende Impulse im musikalischen Verlauf besitzt.
Auf der kontinuierlich ausgezeichnet disponierten Orchesterleistung ruhte die Qualität der Solostimmen, die bestens aufeinander abgestimmt waren und sich zu einem organischen Ganzen verbanden. Der Mezzosopran von Dolora Zalick in der Rolle der Mutter Rosa Mamai beeindruckte durch Kraft und leidenschaftlichen Ausdruck. Den Federico von Joseph Calleja kann man getrost unnachahmlich nennen, was vor allem seinem charakteristischen Timbre zu danken ist. Seine Romanze im zweiten Akt, mit strömender Klangfülle vorgetragen, brachte ihm minutenlangen Szenenapplaus ein. Der Sopran von Mariangela Sicilia in der Rolle der Vivetta strahlte gleichermaßen durch hingebungsvollen Ausdruck wie durch außergewöhnliche Klangschönheit. Markus Brück war als Schäfer Baldassare hörbar aufs Beste in seinem Element und glänzte durch kraftvolle Spitzentöne. Seth Carico war als Metifio mit dunkel getöntem, punktuell geschärftem Bassbariton bei jedem Auftritt ein bemerkenswerter Akzent, der vielleicht auch zur Geltung kommt, wenn er einmal den Scarpia in der „Tosca“ gestaltet. Den Bruder Marco sang Byung Gil Kim mit schönen, klarem Bass, und den anfangs behinderten L’innocente
gestaltete die Sopranistin Meechot Marrero mit schöner Stimme und einfühlsamer Mimik. Die überaus stimmungsvoll eingesetzten Chöre hatte Jeremy Bines sehr sorgfältig einstudiert.
Der Lohn der guten Vorbereitung war der reiche Applaus des Publikums mit allen Zeichen der Begeisterung für die Leistung des gesamten Ensembles.
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