Zum Inhalt: Robert Harris’ VATERLAND spielt im April des Jahres 1964 in Deutschland. Allerdings weder in der DDR noch in der BRD, sondern in einer historischen Fiktion, die ab dem Jahre 1942 einen furchteinflößenden, anderen Verlauf der geschichtlichen Ereignisse imaginiert: Dem nationalsozialistischen Deutschland ist es gelungen, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Das Dritte Reich erstreckt sich bis an den Ural und gibt seit zwei Jahrzehnten in Europa ideologisch und machtpolitisch den Ton an. Nun steht der 75. Geburtstag des Führers bevor, der gerade im Begriff ist, mit dem US-amerikanischen Präsidenten ein erweitertes Abkommen zu schließen, das den ‚Kalten Krieg‘ zwischen den beiden verbliebenen Großmächten beenden soll. Der Kriminalkommissar Xaver März ermittelt derweil in einem Todesfall. Was anfangs wie ein Suizid aussieht, stellt sich schnell als ein Verbrechen mit politischer Tragweite heraus. Gemeinsam mit der amerikanischen Journalistin Charlotte Maguire stößt März bei seinen Nachforschungen auf ein in dieser fiktiven ‚Version der Geschichte‘ bislang vertuschtes, kaum vorstellbares Verbrechen. Die Gestapo tut daraufhin alles, um ein öffentliches Bekanntwerden dieser Gräuel zu verhindern – und die beiden Protagonist*innen alles, um sie an die Öffentlichkeit zu bringen.
Mit: Nadja Stübiger, Kaya Loewe, Ahmad Mesgarha, Marin Blülle, Betty Freudenberg, Viktor Tremmel, Yassin Trabelsi, Tilo Krügel/ Torsten Ranft Live-Kamera: Julius Günzel und Christian Rabending
Regie: Claudia Bauer Bühne: Andreas Auerbach Kostüme: Vanessa Rust Komposition und Soundtrack: Robert Lippok Video: Jan Isaak Voges Musikalische Einstudierung und Live-Musik: Thomas Mahn Licht: Peter Lorenz Dramaturgie: Lüder Wilcke
''In Bauers Inszenierung begegnet man dem Schrecken zunächst als lustigem Mummenschanz. Mesgarha blödelt seinen Kennedy als amerikanische TV-Knallcharge hin. Sehr schön singt er auch als gealterte Zarah Leander deutsche Schlager. Es gibt Schweizer Schoki fürs Publikum, Marin Blülle klärt im schönsten Dialekt über das Schweizer Bankgeheimnis auf, und Viktor Tremmel brilliert mit tief österreichischem Zungenschlag als Gestapo-Bluthund Globocnik, der März auch bald in die Mangel nimmt. Das Zentrum des Grauens bildet hier eine große, ständig kreiselnde Holzbox, in deren Innenraum Bühnenbildner Andreas Auerbach einen kleinen Wald und deutsche Heimelichkeit mit Geweihen und Kriegsspielzeug gebaut hat. Die Zwiegespräche darin werden via Livekamera auf herunterfahrende Videowände projiziert. Das gibt dem ganzen den Eindruck eines düster spannenden Kammerspiels. Sehr dämonisch auch Tilo Krügel als März‘ Vorgesetzter Nebe, der mehr zu wissen scheint, als er vorgibt, und März doch nicht von seinem gefährlichen Spiel abhält. Dem komplizierten Krimi-Plot zu folgen, fällt bei der recht linear erzählten Handlung aber nicht all zu schwer.
Nach der Pause gewinnt der anfängliche Klamauk auch an Dringlichkeit, die selbst in der Überzeichnung nicht ihre Wirkung verfehlt. Besonders wenn aus den Wannsee-Protokollen gelesen wird. März und Maguire wollen die Papiere in die Schweiz schmuggeln, damit diese veröffentlicht werden können. Die Reise des zweifelnden Kommissars geht noch weiter bis nach Auschwitz, wo er die Spuren des Vernichtungslagers unter dem buchstäblich gewachsenen Gras findet. Auch beginnt er über den Verbleib jüdischer Familien nachzudenken, als er Fotos der Familie Weiss unter der Tapete seiner Wohnung findet. Als Stolperstein der Erinnerungskultur gedacht, lässt sich der Roman in seiner Handlungsfülle sicher nicht in Gänze dem Thema angemessen für die Bühne adaptieren. Claudia Bauer ist dennoch ein spannungsgeladener und dazu noch unterhaltender Theaterabend gelungen, der einen nicht mit Fakten erschlägt und genug Platz für eigene Gedanken lässt.'' schreibt Stefan Bock am 4. März 2023 auf KULTURA-EXTRA