Sie ist eine der mythischen Gestalten der Weltgeschichte: Helena, die Tochter des Göttervaters Zeus, der sich ihrer Mutter Leda in Gestalt eines Schwans genähert hatte. Paris, der Sohn von Priamos und Hekabe, erklärt Aphrodite für schöner als ihre göttlichen Schwestern Hera und Athene, und Aphrodite verspricht ihm dafür die schönste Frau der Welt, eben jene Helena, die er von Sparta nach Troja entführt. Deren bisheriger Gatte Menelaos von Sparta reist ihr nach und fordert seine Frau zurück. Darüber entbrennt der trojanische Krieg, der auf beiden Seiten fürchterliche Opfer fordert. Schliesslich nimmt Menelaos die vielfach Umworbene wieder zurück nach Sparta. Diese Schönheit ohnegleichen mit ihrem etwas lädierten Ruf hat seit der Antike viele große Schriftsteller wie Shakespeare und Goethe zu eigenen Exkursen über ihre schillernde Persönlichkeit angeregt. Der spanische Autor Miguel de Arco hat nun für die Schauspielerin Carmen Machi einen Helena-Monolog geschrieben, den Miriam Smolka ins Deutsche übersetzt hat. In der Aufführung des Berliner Renaissance-Theaters spielt Georgette Dee, als "Deutschlands größte lebende Diseuse" gerühmt, in der Inszenierung von Elias Perrig das Idol aus der Antike, das sein Leben resümiert und dabei unberechtigte Vorurteile zurechtrückt.
Georgette Dee fügt der Aura der antiken Diva, Sexsymbol und Superstar, die Dimension der androgynen Travestie hinzu. Helena ist in die Jahre gekommen, greift gern zur Flasche und läßt die Gestalten und Ereignisse ihres Lebens reflektierend an sich vorüberziehen. Sie ist inzwischen weisshaarig und tritt in einem langwallenden schwarzen Gewand vors Publikum, kombiniert mit einem rotschimmernden Seidenschal. Ihre Sprache ist der Slang unserer Tage, gewürzt mit respektlosen Randbemerkungen und erfrischenden Frotzeleien über Männerklischees und Frauenbilder. Sie führt Schmähreden gegen ihren Göttervater Zeus, die mehrfach von dröhnendem Donner aus der Höhe konterkariert werden. Sie dekoriert ihre Position mit suggestivem Tanz und mehreren Chansons, die eine Nähe zu "Non, je ne regrette rien" spüren lassen. Da geht es nicht nur um erotische Ambivalenzen, sondern auch um blutiges Schlachtgetümmel zur Musik von Wagners "Walkürenritt", und schließlich wird die Frage zum Hauptproblem, wie man die entfesselte Kriegsmaschinerie wieder zum Stillstand bringen kann.
In der Darstellung von Georgette Dee hat Helenas Selbstverteidigung nichts Reißerisches oder gar Obszönes. Stattdessen gewinnt diese Gestalt Glaubwürdigkeit und weckt sogar Mitgefühl und Sympathie. Nicht die Frauen bestimmen den Gang der Weltgeschichte, sondern die unheilige Allianz der Götter mit den Männern. Die Männer zetteln mit ihrer Kampfeslust und Brutalität allen Streit an, und die Frauen sind lediglich die Opfer, die letztlich machtlosen Zuschauer. Was den Frauen am Ende bleibt, ist allenfalls ein schlechter Ruf. Da hilft kein Flehen und kein Gebet. Helena muss sich damit zufriedengeben, diesen antiken Weltkrieg ausgelöst zu haben, und sie erntet nur den Racheschrei "Tötet die Hure, die all dies verschuldet hat". Dabei wollte sie doch nur Frieden und Ruhe, um endlich mal wieder ungefährdet "zum Griechen gehen" zu können. Aber die Klage wird nicht uferlos, der sarkastische Kommentar liegt immer gleich daneben. Dementsprechend kehrt gegen Ende Erschöpfung ein, die Flaschen sind alle geleert, ein Gutenachtlied und Madrigalmusik signalisieren das Finale. Helena trollt sich auf die Seitenbühne mit dem Gefühl, sich heute vielleicht doch ein bißchen viel zugemutet zu haben.
Das Publikum, dem schon die zahlreichen Pointen des Textes hörbares Vergnügen bereitet haben, spendet der auferstandenen Superfrau begeisterten Applaus, in den sich sogar einige Bravorufe mischen.
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