Eine einfache Ziegelmauer, blaues Licht, dunkle Gestalten. Leise betreten sie die Bühne. Sie tragen 20-er Jahre Arbeiter-Mützen. Draußen und drinnen, wo sind die Unterschiede? Das Draußen macht Angst. Ein „sauberer Anfang“ soll es sein, wenn man rauskommt, anständig werden, das ist das Ziel, was hier angesteuert und am Ende verfehlt wird. Ein Ziel, dem alle nachstreben, dass sich im Blauen Licht nächtlicher Traumbilder entwickelt. Ein Sprechchor der Gefangenen führt in die Handlung ein. Die Hauptperson Kufalt wird von drei Männern, Elias, George, Patrik, mal abwechselnd, mal zusammen sprechend, gespielt. Jeder bildet dabei eine andere Seite der Person Kufalt ab. Den rebellischen Kufalt gibt Elias, den vermauerten George, den traurig-resignierten Patrik. Das kommt gut.
Dann der Tag: Kleine Handlungssequenzen begleiten Kufalt bei den Vorbereitungen zur Entlassung. Kluge Ratschläge werden ihm gegeben, vom Gefängnisdirektor (sehr echt: Gustavo de Costa) vom Pfarrer (köstlich gespielt von Justin H., einem echten Spieltalent), und von den Kumpels, überall hört er, es habe keinen Sinn. Man schafft es nicht, alle kämen immer wieder. Von seinem Geld, 300 Mark, wird ihm nur 15.- pro Tag zugebilligt, als Erziehungsmaßnahme. Das demütigt ihn. Er wolle einen Laden aufmachen, er brauche alles, sagt er, es wird ihm verwehrt. Der Pfarrer säuselt herum, aber Kufalt wirft ihn aus der Zelle. Der Dialog zwischen Kufalt und dem Pfarrer ist eine geniale Kirchenkritik.
Man traut ihm nichts zu, er wird es allen zeigen. Ja, Kufalt hat Geld unterschlagen, das war ein Fehltritt. Dafür war er im Gefängnis. Nun geht es raus. Nochmal will er nicht auf die schiefe Bahn geraten. Seine Ansprüche an die Zukunft: "Man hat sein Zimmer, sitzt warm durch den Winter, vielleicht mal Kino", das muss doch machbar sein. Hauptsache: anständig werden. Aber so einfach ist das nicht. Der Weg des Kufalt, durch das kalte Draußen seine Anständigkeit zu behalten, scheitert und löst sich auf in Wut, Verzweiflung und Resignation. Die Aufführung schafft dabei eine dichte Atmosphäre von Wahrhaftigkeit.
Die kleinen Szenen in Wohnungen, auf der Straße, auf dem Amt, werden mit wenigen echten Requisiten (Schiebermützen, Hosenträger, Schreibmaschinen) einfach, unprätentiös, realistisch, nachgespielt. Dazu wenig Sprechchor, stattdessen Chor mit Gesang mit schönen, ausdrucksstarken Stimmen. Die Schlager dazu: „Das Lied von Fritze Bollmann“ und „Die Männer sind alle Verbrecher“ geben eine wunderbar proletarische Atmosphäre wieder.
Schon am Vorabend der Entlassung wird klar, die Bedingungen sind es, die dem Anständigwerden entgegenstehen. Der Weg nach draußen ist steinig, wird massiv erschwert, stellt sich als Hölle heraus. Es gibt nichts anderes als nur das Männerwohnheim, dort herrscht die blanke Ausbeutung, schlimmer als drinnen. Aber es gibt Energie auf Seiten Kufalts: Er lernt ein Mädchen kennen, und mit Kumpels machen sie ein eigenes Schreibbüro auf. Kufalt gewinnt an Zuversicht. Doch es kippt, als die Familie von seiner Vorstrafe erfährt, die Sache erschlägt sich, das Schreibbüro wird vom Finanzamt geschlossen, Kufalt stürzt.
Die Aufführung wird wunderbar stringent runtergespielt. Mit Verve, mit Engagement, sogar mit Witz: Einzigartig dazu die Szene im Schreibbüro, wo die Hände zur Musik auf den Tasten tanzen. Die Spieler sind alle sehr präzise dabei. Sie spielen ihre Figuren mit innigster Beteiligung, der Jüngste Spieler, Justin H., ist erst 18 Jahre alt, und spielt zwei grundverschiedene Figuren ( den Pastor und die Freundin). Das bleibt einem im Kopf, er spielt wie ein Profi. Aber auch die anderen spielen, als ginge es um ihr eigenes Leben. Sehr berührende Dialoge, sehr berührende Szenen, die Insassen der Jugendstrafanstalt spielen sehr glaubwürdig. Auch Brecht kommt vor: …verwische die Spuren, verwische die Spuren, wer nichts sagt, wie soll der gefunden werden… Die wechselnden Stimmungen Kufalts, sein Aufbäumen gegen die Ungerechtigkeit und Aussichtslosigkeit, seine Wendung Richtung Rache, sein Ende: allein, allein, immer allein… Die Gesänge, die lauten Momente, die stillen Momente, die Unterbrechungen, auch ein selbst ausgedachter RAP ist dabei, das alles ist sehr gut dramaturgisch umgesetzt.
Und dazu auch eine Trauer, die jeder kennt: …dann kommen die endlosen Nächte, da träum ich und da wein ich mich aus…
Über 100 Jahre alt ist das Stück. Auf der Bühne wirkt es wie immer noch aktuell, und das, obgleich es ganz in seiner Zeit bleibt. Das liegt an den Spielern, sie spielen es mit ihren eigenen Gefühlen, Wünschen und Befürchtungen und auf dem Hintergrund eigener trauriger Erlebnisse, und als Insassen einer Strafanstalt, für die der Tag der Entlassung auch eines Tages kommen wird.
Sehr sympathisch, dass es als Stück nicht laut und modisch aufgepeppt daherkommt, auch, dass es nicht formal hochgestochen bebildert, emotional überzogen wurde, all das gibt es, wenn ansonsten der Blechnapf gegeben wird. Dem Stück fehlt jeder theatermodische Trend. Es ist nicht distanziert, nicht manieriert, nicht dekadent, nicht absurd übersteigert, sondern realistisch, episch, einfach. Ein Lehrstück, spielerisch, nicht streng. Dialektisches Theater. Mit echten Typen, sparsam bebildert, aber nicht kalt. Ein echtes Brechtstück, der Meister hätte seine Freude an seinem Schüler Atanassow gehabt. Unser Regisseur, darin sind sich all die „Jungs“ einig, wie sie nachher im Publikumsgespräch erzählen, das ist der beste: Er ist es, der das alles aus uns herausholt! Und dabei leuchten die Augen derjenigen, die jeden Abend in die Zelle zurückmüssen.
Anja Röhl
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