Zum Inhalt: Eine Nacht in ferner Zukunft, dort: ein schlafloses Kind vor einem Bildschirm. Auf dem Screen eine Reportage über vergangene Zeiten. Archäologen haben eine spektakuläre Entdeckung gemacht. Tief vergraben im Wüstensand stießen sie auf ein seltsames Bündel von Blättern, auf Dokumente einer längst untergegangenen Kultur. Aber die Wissenschaftler können dieses prähistorische Buch nicht lesen. Es ist in einer Sprache verfasst, die in keiner Weise mit irgendeiner bisher bekannten verwandt ist. Wie ließe sich ein Text, der so viel Aufschluss über eine fremde Kultur geben könnte, bloß übersetzen? Schließlich finden die Forscher eine Frau, die vielleicht als letzte noch Lebende das Buch lesen kann. Kettenrauchend beginnt die alte Dame von der Vergangenheit zu berichten, schmunzelnd erzählt sie von einer anderen Welt. Von einer Kultur, die keine Differenz zwischen Zukunft und Gegenwart oder Vergangenheit kennt. Sie beschreibt einen Kosmos der Gleichzeitigkeit. Außerdem eine Gesellschaft, in der die Helligkeit das höchste Gut ist, die der unstillbare Drang nach Licht aber auch an den Rand des Unterganges führt. Führen wird? Oder doch schon geführt hat? Über welche Zeit und welche Kultur redet die Kettenraucherin eigentlich gerade?
Mit Sophia Löffler und Chor: Mona Abdel Baky, Nils Arztmann, Hanna Donald, Nathan Eckert, Lena Frauenberger, Alexander Gerlini, Ljubica Jaksic, Daniel Kisielow, Anna Kubiak, Rhea Kurzemann, Cordula Rieger, Karoline Sachslehner, Gemma Vanuzzi, Juri Zanger Regie: Zino Wey
Regie: Thomas Köck & Elsa-Sophie Jach Bühne: Stephan Weber Kostüme: Giovanna Bolliger Dramaturgie: Anna Laner Regieassistenz: Gabriel Zschache
Bei der Uraufführung, die Autor Köck gemeinsam mit Co-Regisseurin Elsa-Sophie Jach am Schauspielhaus Wien inszenierte und die nun zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin eingeladen war, stehen dreizehn Teenager in Bomberjacken im Mittelpunkt. Sie lassen ihrem Frust freien Lauf: Sie ziehen über den österreichischen Kanzler-Sonnyboy Sebastian Kurz her und wiederholen loopartig seinen flapsigen Spruch „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen“, den er auf dem Höhepunkt der europäischen Flüchtlingsdebatte im Januar 2016 brachte. Sie empören sich darüber, dass das 1% der Superreichen mehr als die Hälfte des weltweiten Wohlstands besitzt, schimpfen darüber, dass ihnen ihre Eltern eine Welt voller Schulden und Chaos hinterlassen, und spielen als Kronzeugin einen Zitatschnipsel von Sahra Wagenknecht ein, dass auch heute noch dieselben Familien in Florenz den größten Reichtum haben wie zu Zeiten der Medici.
Das Sperrfeuer dieser Anklage ist schwungvoll und präzise choreographiert. Auch wenn die Textverständlichkeit manchmal leidet, gehört der Wiener Teenager-Chor zu den Publikumslieblingen dieser beiden Festival-Wochen. Gegenspielerin des Chores ist Sophia Löffler als die Seherin Kassandra. Im hohen, pathetischen Ton und blauen Abendkleid hat sie den ersten Auftritt des Abends, bevor der Chor die Bühne entert. Die Wortgefechte zwischen der Solistin und den Pubertierenden, denen sie die Leviten lässt, und die Verfolgungsjagden mit Hooligan-Baseballschlägern erinnern sehr an René Pollesch und seine Guerilla-Chöre, die Sophie Rois oder Fabian Hinrichs hetzen.
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''Verteilungsprobleme hatte auch schon das Performance-Kollektiv She She Pop in seinem an Brecht orientierten Oratorium übers Erben behandelt. Nie ist so viel vererbt worden, wie im Moment, das gilt nicht nur für Österreich, dessen Jung-Kanzler Kurz hier vom Band über die Ungerechtigkeit der Erbschaftssteuer referiert, während Sahra Wagenknecht mit der Erkenntnis aufwartet, dass heute immer noch dieselben Familien in Florenz den größten Reichtum besitzen wie zu Zeiten der Medici. So eine Rechnung wird auch in Köcks Text aufgemacht. Verteilungsungerechtigkeit zwischen den Generationen und Schichten der europäischen Bevölkerung bleibt das große Thema dieser Tage, das von rechts wie links befeuert wird, während andere Verlierer von globalen Verteilungskämpfen an Europas Türen klopfen oder sie nach Maßgabe der vermeintlich Abgehängten eigentlich schon eingerannt haben. Da darf dann auch Trump samt Sippschaft nicht fehlen. Köck macht hier einen Exkurs in den 68. Stock des Trump Towers, wo ein kleiner Junge über sein Erbe nachsinnt.
Was da nun so genau vererbt wird, auch darüber lässt sich Köcks Text etwas vage aus. Neben dem Geld der Elterngeneration sind das natürlich auch das ökologische Erbe der Welt, um das es nicht so gut bestellt ist, und eine immense Staatsverschuldung. Ob man dieses Erbe nun antreten will oder sich in den Clinch mit den Verflossenen begibt, das wird bei einem Boxkampf mit den Leichensäcken ausgetragen. „What the f**k“, „Wasted“ „Hate it“ oder „Game over“ steht auf den Bomberjacken der Chormitglieder. Ein „No Futur“ darf natürlich auch nicht fehlen. Nun ist die Zukunft in der Hand von Geistern, deren Spur man folgen soll. Das wird dann nicht nur zu einem grammatikalischen Zeitformproblem, sondern vor allem zur kalauernden Wortspielerei, der sich der Mittelstandschor als antikes Weltopfer am Ende der Geschichte ziemlich planlos mit apokalyptischer Sehnsucht ergibt. „Nothing ist written in the Stars“, ertönt es mit der Band Phantom Ghost von Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow. Da will man wohl doch nichts dem unsicheren Orakeln einer Seherin überlassen. Wohin diese Zukunft, die nur in der Vergangenheit gefunden werden kann, führen soll, steht im nicht lesbaren Buch vom Ende der Nacht, das wie ein verirrter Roboter im Sonnensturm die Zeiten und Menschen überdauern wird. Aber zumindest hat es 90 Minuten lang ganz lustig gefunzelt.'' schreibt Stefan Bock am 20. Juni 2018 auf KULTURA-EXTRA