Zum Inhalt: »Der österreichische Skisport ist die ›heilige Kuh‹«, sagt die ehemalige Skiläuferin und österreichische Abfahrtsmeisterin Nicola Werdenigg, als sie sich im vergangenen Jahr entschließt, Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe während der 70er Jahre in österreichischen Skiinternaten, in Trainingslagern und auf Wettkämpfen öffentlich zu machen. Sie beschreibt die repressive Atmosphäre einer geschlossenen, frauenverachtenden, streng hierarchischen Gesellschaft – Trainer, Lehrer, Rektoren, die im Namen des Leistungssportes ihre Schützlinge unter Druck setzten und missbrauchten. Mit ihren Enthüllungen erschüttert Werdenigg eine der Grundfesten des nationalen Selbstbewusstseins Österreichs. Elfriede Jelinek nimmt diese Offenbarungen zum Anlass ein assoziatives, kulturkritisches und diskursives Textgebirge zu schaffen, in dem sie zugleich Schicht um Schicht unserer europäischen Moral- und Sittengeschichte freilegt. So überlagern sich in ihrem neuen Stück wechselnde Perspektiven und Positionen, historische und moderne Frauen- und Rollenbilder, Fragen nach Gerechtigkeit, nach unserem heutigen moralischen Selbstverständnis, Fragen nach Strafe und Schuld.
Mit: Margot Gödrös, Simon Kirsch, Lola Klamroth, Peter Knaack. Nikolay Sidorenko und Sabine Waibel
Regie: Stefan Bachmann Bühne / Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes Komposition und musikalische Einrichtung: Gajek Choreografie / Körperarbeit: Sabina Perry Licht: Michael Gööck Dramaturgie: Beate Heine
Jelinek-Suada gegen Missbrauch mit kryptischen Passagen
5 Jahre her.
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Kritik
Wer jemals ORF-Übertragungen von alpinen Skirennen gesehen hat, weiß, mit wie viel Herzblut und Chauvinismus die Kommentatoren ihre Athlet*innen anfeuern. Jelinek bezeichnet den alpinen Rennsport als eine „heilige Kuh“ ihrer Landsleute, die Uraufführungs-Regisseur Stefan Bachmann auch symbolisch über die Bühne trotten lässt. In den zugänglicheren, weniger kryptischen Passagen ihrer Textfläche führt Jelinek das „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“-Prinzip der sprichwörtlichen drei Affen vor. Niemand will etwas gewusst haben. Margot Gödrös karikiert im Rollstuhl und mit Schweizer Akzent den Unternehmer und ÖSV-Präsidenten Peter Schröcksnadel, der wie Gottvater über den Dingen stehen möchte.
Hier schlägt Jelinek den Bogen zu einer anderen patriarchal und autoritär geprägten Organisation, die von Missbrauchsskandalen erschüttert wurde: zur katholischen Kirche. Sie bedient sich bei Motiven des kaum bekannten, 1894 erschienen, satirisch-grotesken Dramas „Das Liebesdomizil“ und lässt sich von ihrer assoziativen Sprachbegeisterung treiben.
Nach der ersten der beiden Stunden lichteten sich viele Reihen beim Autorentheatertage-Gastspiel der Kölner Uraufführungs-Inszenierung in Berlin: zu schwer wiegen die Textbrocken, zu langatmig ist der Mittelteil des Abends. Die Spielfreude des starken Ensembles, das mit Skifahr-Einlagen unterhält, die tollen Kostümen (Jana Findeklee und Joki Tewes) und die provozierend-schräge Musikauswahl (Gajek) von DJ Ötzis „Ein Stern“ bis zu „Last Christmas“ sorgen zwar für unterhaltsame Momente.
Dem regieführenden Intendanten Stefan Bachmann ist es aber nicht gelungen, den ausufernden Text in den Griff zu bekommen und eigene Akzente zu setzen. Margarete Affenzeller fühlte sich im Wiener „Standard“ zurecht an einen „Jelinek-Inszenierungskatalog“ erinnert.
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''Jelinek macht auf hohle Leere in den Phrasen aufmerksam, indem sie die Vieldeutigkeit von Worten fokussiert. Sie thematisiert Vorstellungen von Pflicht, Schuld und Verantwortung. Das Drama arbeitet mit Mechanismen der Ironie, wenn biblische Themen eingebettet werden. So lassen gleich zwei Jesusfiguren in Nacktkostümen vermuten, dass hinter Gott als Allvater auch der Skivater, der Rektor und der Chef des Skiverbandes stecken könnten. Der abgeschnittene Kopf von Johannes dem Täufer erklärt freiheraus, dass er die Salome gedenke zu überleben. Es gibt archaisch sexualisierte Rituale, wenn sich gehörnte Männer in Nacktkostümen an einer Wassermelone verlustieren. Thematisiert wird nicht nur ein vom Sport ausgehendes Unglück, nein, auch dass die Zuschauer noch auf anstößige Tweets hierzu warteten. Und die Frauen werden ja sowieso überhört, wenn sie ihre Stimme erheben, wie auch schon in Ovids mythologischen Epos Metamorphosen, worauf das Programmheft zum Drama hinweist. In Schnee Weiss heißt es: „…und wir schweigen sowieso still, man würde uns nicht hören.“
In Jelineks Potpourri werden allerlei heilige Kühe im rechtsrechten Österreich geschlachtet, etwa ob es gut sein muss, immer unbedingt Erste oder Erster sein zu wollen. Schnee Weiss ist ein Drama gegen die Verdrängung, das Machtspiele angreift und entlarvt. Doch ebenso, wie man im Lauf der Herde auf dem Weg zu überfüllten Stadien und Pisten offensichtlich aus dem Schlepplift fallen kann, geht man auch in Jelineks Textwüste arg schnell verloren und muss sich immer wieder zwingen, die Ohren bereitwillig zu spitzen.'' schreibt Ansgar Skoda am 23. Dezember 2018 auf KULTURA-EXTRA