Kritik
Giacomo Puccinis Ausflug in das modische Goldrausch-Land des Wilden Westens kam 1910 an der Metropolitan Opera in New York City mit Enrico Caruso als Johnson und Arturo Toscanini am Pult heraus. Die Minnie sang damals Emmy Destinn. Die deutsche Erstaufführung gab es drei Jahre später unter Ignatz Waghalter am Charlottenburger Deutschen Opernhaus, der heutigen Deutschen Oper Berlin.
Die Neuinszenierung an der Berliner Staatsoper besorgte Lydia Steier, und in Zeiten abklingender Pandemie-Gefahr findet diese Premiere gewissermassen auf zwei Ebenen statt: vor Publikum im Hause Unter den Linden und im kostenlosen Livestream, was die Freude des Zuschauens noch steigert. (Den Livestream konnte man auch in einem Pop-up-Autokino am Flughafen Tempelhof verfolgen, mit Tonwiedergabe übers Autoradio).
Am Pult der Staatskapelle Berlin steht diesmal Sir Antonio Pappano aus London, der Musikchef des Royal Opera House.
Minnie (Anja Kampe), Schankwirtin ihres Zeichens im Saloon “Polka”, ist die einzige Frau in der rauen Männerwelt eines Gold Rush Districts weit draussen im kalifornischen Wilden Westen. Die Männer achten sie alle, begehren sie aber auch. Besonders deutlich zeigt das ein ausgesprochenes Raubein, der Sheriff Jack Rance (Michael Volle).
Der 1. Akt greift beherzt ins volle Milieu. Das Lagerleben besteht am Abend aus Kartenspiel und Whiskytrinken. Auf den Tischen wird getanzt, einer spendiert Zigarren, ein anderer “Whisky für alle”. Sentimentales Heimweh grassiert. Das Bühnenbild schafft reizvolle optische Fixpunkte. Falschspielern geht’s ohne viel Federlesens an den Kragen. Minnie schlichtet einen Streit mit der Knarre in der Hand. Trinkfest ist sie ausserdem. Und gibt Bibelunterricht.
Ein Postillon kommt. Eine zwielichtige Frau soll behauptet haben, das Versteck des gesuchten Banditen Ramirez zu kennen. Der Sheriff bekennt, dass er Minnie liebt, aber sie weist ihn ab. Rance holt weit aus, seinen Lebensweg mit vollem stimmlichen Einsatz zu schildern. Minnie tut’s ihm gleich, hier die Stimme aufs Äusserste forcierend.
Ein Fremder tritt ein, erzeugt zunächst Befremden. Er und Minnie sind sich schon früher begegnet. Dieser Mr. Johnson (vorzüglich: Marcelo Álvarez) stösst auf Ablehnung, aber Minnie bürgt für ihn. Beide tanzen zusammen.
Minnie und Johnson allein zu zweit. Ihr gegenseitiges Vertrauen wächst. Minnie bewacht das dort deponierte Gold der Lagerinsassen. Sie lädt ihn zu sich nach Hause ein.
Der zweite Akt spielt in Minnies häuslicher Umgebung. Sie macht sich fein, um ihren Besuch zu empfangen. Johnson kommt.
Sie schildert ihr Leben. Beide diskutieren über die Liebe. Ein Kuss wird gewährt. Schüsse ertönen draussen. Johnson: “Ich will dich für immer ! “ Sein Name sei Dick, sagt er. Jack Rance kommt herein und sagt, Johnson sei der gesuchte Ramirez. Kellner Nick (Stephan Rügamer) will ihn auf dem Weg zu Minnies Haus gesehen haben. Minnie ist gewarnt.
Johnson verlässt das Haus, und draussen trifft ihn ein Schuss. Er flieht verwundet zurück zu ihr, sie verbirgt ihn auf dem Dachboden. Jack Rance sucht ihn und erkennt an einem Tropfen Blut, wo er steckt. Sie schlägt absichtsvoll eine Pokerpartie um das Leben von Johnson vor. Er willigt ein. Sie spielen, Minnie gewinnt. Mit einer falschen Karte. Und triumphiert.
Schneegestöber. Sehr fantasievolle Projektion. Dritter Akt. Hasstirade von Jack Rance. Ein Gehenkter baumelt von der Decke. Ein Pickup rollt herein, und die Verfolger von Ramirez jubeln: der Gesuchte ist gefunden! Ein mächtiger Wirbel mit Feuerwerk: Ramirez soll hängen. Jack Rance verspottet ihn. Dessen Schlusswort, dann senkt sich die Schlinge herab. Aber Minnie gebietet Einhalt. Sie erwirkt allseitige Verzeihung und enteilt mit ihrem Geliebten in ein neues Leben.
Die Stimmen der Hauptakteure werden, von einigen anfänglichen, der Dramatik geschuldeten Forcierungen abgesehen, ihrem darstellerischen Ausdruck absolut gerecht. Ein plausibles Bühnenbild und vorzügliche Lichtregie unterstützen die szenische Wirkung. Eine insgesamt überzeugende Aufführung, die auch für die streckenweise kolportagehafte Handlung einen guten, einleuchtenden und bewegenden Ausdruck findet.
Antonio Pappano am Pult der Staatskapelle erreicht vom ersten Takt an die optimale Balance zwischen vitalem Auftrumpfen und feinsinnig-sensibler Melodik. Das Ganze ist schönster Puccini in einer überaus sorgfältigen Interpretation.
Reicher, verdienter Applaus, ein erlösender Abend: endlich wieder vor wirklichem, wenn auch hygienebedingt vermindertem Publikum.
Horst Rödiger
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