Zum Inhalt: „In jedem Drama steckt ein Splitter Hoffnung“, sagt der in Berlin lebende syrische Schriftsteller Mohammad Al Attar. Die Theaterstücke, die er mit dem Regisseur Omar Abusaada entwickelt, verdichten die Erfahrungen des Krieges und was es bedeutet, sie auszuhalten. Theater ist ihr Werkzeug, die komplexe Realität dieses Krieges zu dekonstruieren. Mit Iphigenie vollenden sie nun ihr Antikenprojekt, das sich dem Leben vertriebener Frauen widmet. Auf die Adaptionen Trojan Women (Die Troerinnen, 2013) in Jordanien und Antigone of Shatila (2014) im Libanon folgt nun Iphigenie auf Tempelhof. Basierend auf Euripides fast 2500 Jahre altem Stück entwickeln sie Text und Bühnenbild gemeinsam mit einer Gruppe syrischer, in Berlin lebender Frauen. Im Dialog mit Euripides erheben sie an diesem Theaterabend ihre Stimmen und projizieren aus ihren Geschichten eine akute Realität auf die Bühne. Eine hyperrealistische, verdichtete Realität. Lassen sich Migrationsbewegungen als eine prekäre Form von Kosmopolitismus begreifen? Hier auf Tempelhof, in direkter Nachbarschaft zu einer der größten Flüchtlingsnotunterkünfte Berlins?
Mit: Alaa Naser, Nour Bou Ghawi, Layla Shandi, Sajeda Altaia, Diana Kadah, Baian Aljeratly, Rahaf Mustafa Salama, Hebatullah Alabdou, Zina Al Abdullah Alkafri
Text: Mohammad Al Attar Regie: Omar Abusaada Bühne & Kostüme: Bissan Al-Charif Schauspieltraining: Reham Alkassarbanialmarjeh Video: Reem Al Ghazi Licht: Christian Maith Kamera: Mohammad Samer Alzajat Regieassistenz: Amer Okdeh Produktionskoordination: Ameenah Sawwan
''Der Text, den Mohammad Al Attar gemeinsam mit den Frauen entwickelt hat, bleibt seltsam oberflächlich. Immer dann, wenn er in die Tiefe gehen, man den Frauen näher kommen könnte, wechselt er das Thema. Immer dann, wenn er übers Privatistische hinausgehen könnte, bricht er ab. Der Regisseur Omar Abusaada lässt mit der Kamera im Detail auf die hübschen Gesichter der Frauen halten, zeigt jedes Blinzeln, jede Träne im Augenwinkel – wirklich anrühren können die angerissenen Geschichtensplitter der Frauen trotzdem nur selten. (...)
Bei aller Sympathie für die Darstellerinnen, bei aller angeblichen Brisanz, die im Programmheft behauptet wird: Dieser Schauspiel-Auftakt unter Chris Dercon wirkt ästhetisch blass und inhaltlich unbefriedigend.'' schreibt Barbara Behrendt auf kulturradio.de
Das Konzept klingt spannend, Die Umsetzung haperte jedoch gewaltig. Das erste Problem ist schon, dass sich die neun Casting-Szenen ohne jede Auflockerung und nur durch die kurze Einblendung eines „Iphigenie“-Zitats unterbrochen in ihrem Grundmuster wiederholen. Das ist schon nach der ersten halben Stunde, die unglücklicherweise auch die schwächste ist, ziemlich ermüdend.
Noch schlimmer ist: Der Abend hat sich zwar vorgenommen, die großen Fragen zu stellen: Wo sehen die Frauen Anknüpfungspunkte der Iphigenie-Figur zu ihrem Leben? Die Themen „Vater-Tochter-Verhältnis“ und „Aufopferung“ werden angeschnitten, auch die Exil-Situation wird mehrfach angesprochen. Aber das bleibt alles zu bemüht und in Ansätzen stecken. Über weite Strecken sind die Casting-Interviews zu fad, erst kurz vor Schluss wird es langsam besser. Die Szenen treten meist so verkrampft auf der Stelle, dass sie gar keine Chance haben, bis zu den interessanten Aspekten vorzudringen.
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''Das Stück will Erwartungen zum vorherrschenden Flüchtlingsdiskurs und dessen Darstellung auf deutschen Bühnen unterlaufen, was ihm in einigen Momenten auch gelingt und das sogar mit Humor. Die Antwort einer Darstellerin mit dem traditionellen Hijab, ob man den Achill im Stück küssen darf oder aus religiösen Gründen nicht, fällt leider einem temporären Ausfall der Übertitel zum Opfer.
Zu Opfern werden auch immer wieder vor allem Frauen, die in den von Männern geführten Kriegen leiden müssen. Das deutet der Abend mit dem abschließenden Text aus der Tragödie des Euripides an, der noch einmal von einer der Frauen an der Rampe vorgetragen wird. Die Kamera streift dabei über die Gesichter der anderen. Sie alle sind Iphigenie und dabei auch Frauen mit ganz individuellen Geschichten, Wünschen und Träumen. Das zumindest vermittelt die Produktion, die vorerst nur noch an drei weiteren Tagen in Tempelhof laufen wird und damit auf ein weiteres Problem der Volksbühne verweist: das Fehlen eines nachhaltigen Spielplans und wiederkehrenden Repertoires.'' schreibt Stefan Bock am 2. Oktober 2017 auf KULTURA-EXTRA