Zum Inhalt: Ein erfolgloser Drehbuchautor mit Amok-Phantasien. Eine ehemalige Drogendealerin, die zum Internet-Troll umgeschult hat. Eine Professorentochter, die zum Islam konvertiert und ihr darüber verzweifelnder Vater. Ein drogensüchtiger Popstar und sein Manager. Ein koksender Trader, eine obdachlose Hundeliebhaberin mit großem Gerechtigkeitssinn und eine ehemalige Pornodarstellerin. Ein rechtsradikaler H&M-Verkäufer und sein Kumpel, eine einsame Staatsbeamtin, ein krankhafter Frauenschläger und eine Kellnerin mit Talent zum Tätowieren. Sie alle bevölkern das Leben des Vernon Subutex, seines Zeichens bankrott gegangener Plattenhändler ohne Dach über dem Kopf. Ihnen allen verleiht die französische Schriftstellerin, Musikerin und Filmregisseurin Virginie Despentes („Baise Moi!“, „King Kong Theorie“) eine Stimme. Sie alle träumen von einem anderen besseren Leben, auf ganz unterschiedliche Weise.
Mit Maja Beckmann, Jan Bluthardt, Zeynep Bozbay, Thomas Hauser, Abdoul Kader Traoré, Nils Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljić, Daniel Lommatzsch, Kamel Najma, Jochen Noch, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Vincent Redetzki, Samouil Stoyanov
Inszenierung: Stefan Pucher Bühne: Barbara Ehnes Kostüme: Tina Kloempken Video: Meika Dresenkamp Musik: Christopher Uhe Dramaturgie: Tarun Kade Theaterfassung: Tarun Kade, Stefan Pucher, Camille Tricaud
‘‘Wie nebenbei fächert sich hier ein Kosmos aus subtilem Rassenhass, Klassenverachtung und Frauenfeindlichkeit der oberen Schicht (den sogenannten Bobos) auf, die wiederum von den Proleten der Vorstädte wie Noël und Loïc (Daniel Lomatzsch und Vincent Redetzki als rechte Schläger im Camouflagelook) verachtet werden. Über all dem schwebt im Video der charismatische tote Popsänger Bleach (Abdoul Kader Traoré), der wie ein düsterer Prophet den Zusammenbruch der heiligen Kathedrale als Sinnbild der Gesellschaft beschwört. So hält auch der Bund der Subutex-Jünger nicht. Nur in einer von Dopalet geplanten TV-Soap lässt sich das Prinzip massentauglich vermarkten.
Dagegen setzten die flippige Tätowiererin Céleste (Gro Swantje Kohlhof) und die Kopftuch tragende muslimische Studentin Aïcha (Zeynep Bozbay), Tochter des angepassten Uniprofessors Sélim (Kamel Najama), unterschiedliche Formen jugendlichen Protests. Um alte und neue Formen von Revolution und Protest geht es auch in den Gesprächen der verschiedenen ProtagonistInnen, deren Höhepunkt sich nach der Pause in Meetings auf den Convergences mit kleineren Statements zu Politik und Radikalisierung findet. Despentes‘ Vision einer neuen Protestkultur (die Gelbwesten lassen grüßen) gegen Neoliberalismus und Kommerz scheint so in Puchers Inszenierung kurzzeitig auf. Dass dieser Traum im Roman wie auch hier auf der Bühne in einem großen Knall und Attentat einer in Internetforen nationalistisch aufgehetzten jungen Frau (Lola Fonseque im Video) endet, macht die momentane Situation und Ratlosigkeit nur um so deutlicher. Die Zukunft liegt bei Despentes in einem primitiven internet- und sprachlosen Musikkult, der die dunklen Jahrtausende überleben wird.‘‘ schreibt Stefan Bock am 19. Juli 2019 auf KULTURA-EXTRA
Knapp anderthalb Stunden dauert es, bis Stefan Pucher das trotz einiger Streichungen immer noch imposante Figuren-Tableau eingeführt hat. Nacheinander stellen die Spieler*innen in einem kurzen Monolog ihre Charaktere vor, während auf der Video-Leinwand hinter ihnen ihr überdimensionales Porträt prangt. Ein buntes Panoptikum aus Losern, Aussteigern und Exzentrikern hat sich hier auf der Bühne versammelt. Als roter Faden dient die Odyssee des Vernon Subutex (gespielt von Jelena Kuljić), die nach der Pleite ihres Plattenladens auf der Straße landete und Freunde und Bekannte um einen Unterschlupf bittet.
Geradezu zwangsläufig zieht sich die Exposition der Figuren ziemlich in die Länge, dafür entschädigen aber einige starke Soli des hochkarätigen Ensembles: Maja Beckmann ist die mit Fatsuit-Speckröllchen ausstaffierte Emilie, die in einer Publikumsbeschimpfung einen bedauernswerten jungen Maximilianstraßen-Schnösel aufstehen lässt und ihm die Leviten liest. Annette Paulmann legt als Obdachlose Olga einige Wutausbrüche aufs Parkett und bekommt für ihre a-capella-Version des „Skyfall“-Titelsongs von Adele den stärksten Szenenapplaus des mehr als dreistündigen Abends. Wiebke Puls fährt als lesbische „Hyäne“, die sich nach einer Karriere als Dealerin nun auf cyberkriminelle Auftragsarbeiten verlegt hat, ihre Krallen aus und macht sich über traditionelle Mutter-Rollenbilder lustig. Thomas Hauser schüttelt als Ex-Porno-Queen Pamela Kant kokett seine Mähne und ist eine gelungen-laszive Cross-Gender-Besetzung. Nils Kahnwald, der in „Dionysos Stadt“ seine großen Entertainer-Qualitäten bewies, ist als koksender neureicher Kiko diesmal unterfordert, und wechselt sich mit Samouil Stoyanov darin ab, minutenlang unmotiviert-qualmend am Rand der Gruppe zu sitzen.
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