Bewertung und Kritik zu
GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD
von Ödön von Horváth
Regie: Heike M. Goetze
Online-Premiere: 7. November 2020
Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Zum Inhalt: „Ich habe kein anderes Ziel als dies: Demaskierung des Bewusstseins“, schrieb Horváth in einer seiner wenigen Selbstauskünfte. Vor dem Hintergrund der damals größten Wirtschaftskrise der Geschichte kam ihm die Erfahrung entgegen, wie sich die volkstümlichen Klischees in den Köpfen quasi von selbst entlarvten, sich zuspitzten in ihrem Widerspruch zur aktuellen Lage und auf brutale Weise hervortraten – und die Wiener Gemütlichkeit sehr ungemütlich wurde. Wird der Mann arbeitslos, erläutert der Held eines anderen seiner Stücke, „dann lässt die Liebe nach, und zwar automatisch“. Über die Darstellung sprachlicher Verrohung gelingt es Horváth, quasi „poetisch“ präzise den Bewusstseinsstatus seiner Figuren einzufangen. »Geschichten aus dem Wiener Wald«, geschrieben Ende der 1920er Jahre in dieser Zeit katastrophaler Arbeitslosigkeit, ist ein Schlüsselwerk des modernen Dramas. Die zentrale Figur ist Marianne, die in ihrem Leben nach einer Rolle für sich sucht. Wie auch andere Frauenfiguren Horváths lebt sie in scheußlichen Abhängigkeiten. „Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus.“
Aber Marianne kämpft gegen ihre arrangierte Verlobung und versucht zu tun, was ihren Empfindungen und ihrem Gefühl entspricht, das heißt, sich aus dem Konstrukt zu befreien, das ihr Vater, Besitzer eines Spielwarenladens, „Zauberkönig“ genannt, und ihr Bräutigam Oskar, Metzger, gebaut haben. Offenbar soll die marode „Puppenklinik“ durch diese Ehe gerettet werden. Als die Dinge ihren Lauf nehmen, sagt Marianne von sich selbst: „Jetzt bricht der Sklave seine Fessel“. Lange vor 1968 und #MeToo fällt bereits 1929 der Satz: „Mein Körper gehört mir“.
Mit: Simon Brusis, Daniel Hoevels, Jan-Peter Kampwirth, Eva Maria Nikolaus, Josef Ostendorf, Maximilian Scheidt, Julia Wieninger
Regie, Bühne und Kostüme: Heike M. Goetze
Licht: Susanne Ressin
Musik: Fabian Kalker
Dramaturgie: Ralf Fiedler