Wer kennt sie nicht, die meist etwas kleineren Autos mit der triumphierenden Feststellung „Abi 200X“ hinter der Heckscheibe? Als wär’s eine gänzlich unglaubliche und unvergleichliche Leistung, deren Erbringung man nun in alle Welt hinausschreien möchte. Lutz Hübners und Sarah Nemitz’ im Jahre 2016 uraufgeführtes Bühnenstück richtet den Punktstrahler genau auf diese Zeitscheibe im Lebenslauf junger Leute, und es zeigt sich: Was von weitem wie ein Ziel aussah, ist bestenfalls ein Etappenhalt, und wer bis dahin nicht darüber nachgedacht hat, wie es weitergehen soll, riskiert, in ein mentales und emotionales Loch allererster Güte zu fallen.
Solche und zeitgleich ähnliche Probleme behandelt das Stück mit dem gewiss auch doppelsinnig ironisch zu verstehenden Titel „Wunschkinder“ von Lutz Hübner und seiner Ehefrau Sarah Nemitz. Marc ist 19, hat gerade sein Abitur gemacht und hängt nun mangels entsprechender Zielorientierung seit Wochen buchstäblich in der Luft. Arne Gottschling nimmt seine Rolle in der Inszenierung von Torsten Fischer am Berliner Renaissance-Theater zuerst mal ganz wörtlich. Das Bühnenbild von Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos kommt mit ganz wenigen Utensilien aus. Vor dem Horizont mit einer Wattenmeerszenerie hängen aus dem Bühnenhimmel zwei Ringe, wie man sie aus den Turnhallen des Schulsports kennt. Arne Gottschling beginnt seine Auftritte mit ein paar formvollendeten Aufschwüngen an diesen Ringen, was ihm den ersten Szenenbeifall vom Premierenpublikum einträgt.
Damit beginnt eine Aufführung, in der von Anfang an die treffende Rollenbesetzung überzeugt. Klaus Christian Schreiber als Vater Gerd und Simone Thomalla als seine Frau Bettine sind zunächst die beiden Eckpunkte des Spannungsdreiecks zwischen Elternpaar und Sohn, und vor allem der Vater kritisiert die vermeintlich lethargische Orientierungslosigkeit des Abiturienten Marc. Dabei empfindet sich der Vater als durchaus liberaler Ratgeber, und die Mutter tritt zu Beginn eher ausgleichend und versöhnlich in Erscheinung. Später zeigen beide sehr viel mehr engagiertes Temperament. Klaus Christian Schreiber brilliert gemeinsam mit Simone Thomalla in einer Tanzszene mit höchst schmissiger „Puttin’ on the Ritz“-Interpretation, und Thomallas Bettine, eine sehr präzise artikulierende Sprecherin, kann im weiteren Verlauf herrlich in Rage geraten und dabei absolut mitreissend die Szene füllen.
Damit nicht genug der sehr treffend gezeichneten Charaktere. Marc wendet sich einer Freundin zu, die mit ihrem Persönlichkeitsprofil der ganze Gegensatz zu dem dahinlebenden Abiturienten ist. Selma in Gestalt von Emma Lotta Wegner jobbt, macht ihr Abitur im Abendstudium nach und kümmert sich ausserdem um ihre psychisch instabile Mutter Heidrun (Judith Rosmair), die sich in einer überaus sorgfältig skizzierten Charakterstudie streckenweise als menschliches Wrack an der Grenze der Lebensfähigkeit darstellt. Selma wird schwanger von Marc, und nun kümmern sich alle Erwachsenen hingebungsvoll um die Frage, ob sie das Kind zur Welt bringen oder die Schwangerschaft abbrechen soll. Marc verliert den Kopf, wird aggressiv zu seiner Mutter und trampt nach Amsterdam, nachdem er zuvor Vaters Auto demoliert hat. Als die Abtreibung verworfen wird, wetteifern die Erwachsenen um eine Antwort auf die Frage, wo das Kind aufwachsen soll und wie diese Zeit materiell abgesichert werden kann.
Nun greift das Schicksal in den weiteren Gang der Handlung ein. Selma verliert das Kind, sie geht eigene Wege, und das Verhältnis zu Marc beginnt sich aufzulösen. Ganz von selbst treten die anfangs so prekären Fragen der Lebensgestaltung in den Hintergrund und machen neuen Konstellationen Platz. Das letzte Wort hat Bettines Schwester Katrin (Angelika Milster), die bereits zuvor mehrfach als Ratgeberin aus eigener Erfahrung in Erscheinung getreten war. Sie berichtet lapidar über die inzwischen eingetretenen Lebensumstände der Hauptpersonen, in denen sich die einstigen Konflikte nicht mehr abbilden.
Das Publikum folgt mit Anteilnahme und verständnisinnigen Reaktionen dem Gang der Handlung, in der sich viele Situationen abbilden, die man aus eigenem Erleben kennt. Es gibt begeisterten und lärmend zustimmenden Applaus, und die Akteure werden mit Blumen überschüttet, allen voran Simone Thomalla. Auch das Regieteam wird in die begeisterte Zustimmung einbezogen - der Erfolg der Aufführung kann sich sehen lassen.
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