Zum Inhalt: Verstoßen aus dem königlichen Palast, in dem sie mit ihrem Mann Jason und ihren Kindern Exil fand, erzählt Medea ihre Version ihrer Geschichte: Wie sie ihr Land verlassen musste, wie sie ein entsetzliches Verbrechen entdeckte und unbequeme Fragen stellte, und wie ein Netz aus Verleumdungen und Lügen sie aus dem Palast vertrieb. Medea. Stimmen entstand als radikale Korrektur des gängigen Medea-Bildes. Erst seit Euripides, vorher nicht, ist sie die blutrünstige Furie, die ihre Kinder mordet. Christa Wolf fragt nach der Deutungshoheit über Historie – und danach, wessen Interesse es ist, die "wilde Frau" als Mörderin hinzustellen. Erstes Motiv aber sind für die Autorin die selbstzerstörerischen Tendenzen unserer abendländischen Zivilisation: Kolonialismus, Fremdenhass, Ausgrenzung. Wenn am Schluss das Volk aufgehetzt und blind vor Hass gegen die Fremde ist, bleibt Medea nur zu fragen: "Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen könnte" – ein wütendes Fragen, ein Anrennen gegen Resignation, auf der Suche nach einem Neuanfang, nach neuen Werte-Hierarchien – nach der Zukunft.
Mit: Maren Eggert (Medea), Edgar Eckert (Jason), Lisa Hrdina (Agameda), Helmut Mooshammer (Akamas), Thorsten Hierse (Leukon), Kathleen Morgeneyer (Glauke) und der Puppenspielerin Johanna Kolberg (Lyssa) sowie dem Live-Musiker Michael Metzler
Regie: Tilmann Köhler Bühne: Karoly Risz Kostüme: Susanne Uhl und Henrike Huppertsberg Musik: Jörg-Martin Wagner Puppenbau: Franziska Stiller; Karen Schulze und Andreas Müller Licht: Thomas Langguth Dramaturgie: Juliane Koepp
Mit diesem Stoff wählte das Deutsche Theater – wie schon mehrfach in dieser Spielzeit – einen lesenswerten, anregenden, vielschichtigen Roman, der sich besonders schwer auf die Bühne übertragen lässt. Regisseur Tilmann Köhler transformierte die Monologe gemeinsam mit der Dramaturgin Juliane Koepp in eine zweieinhalbstündige Spielfassung, die sowohl den durch knöcheltiefes Wasser watenden Spielern als auch dem Publikum einiges abverlangt.
Maren Eggert steht nach der Wasserschlacht in heutig wirkender Kleidung am Beckenrand und sinniert ratlos, wie es so weit kommen konnte, dass sie zur Verfemten wurde und wie eine Gesellschaft aussehen müsste, in die sie passen würde. Diese nachdenkliche „Medea“ ist ein interessanter Kontrapunkt zur blutig-rasenden „Medea“, die Constanze Becker und Michael Thalheimer einige Meter weiter in ihrer aus Frankfurt mitgebrachten Inszenierung auf die Bühne des Berliner Ensembles wuchten.
Etwas zu oft wälzt sich hingegen Kathleen Morgeneyer als Glauke in epileptischen Anfällen im Becken. Das ist zwar gekonnt gespielt, der Effekt nutzt sich aber bei jeder Wiederholung weiter ab. Lisa Hrdina verkörpert die intrigant-schnippische Agameda, eine ehemalige Schülerin der Medea. Helmut Mooshammer und Thorsten Hierse geben die geheimnisvollen Astronomen des Kreon, während Edgar Eckert in die Rolle des opportunistischen Jason, der Medea fallen lässt, schlüpfen muss.
Vor allem die erste Hälfte ist recht spröde geraten, der Schluss kippt ins Gegenteil und droht im Rennen und Brüllen zu versinken. Trotz dieser Mängel ist „Medea. Stimmen“ ein Abend, der der Vielschichtigkeit der Vorlage gerecht zu werden versucht, die verschiedenen Motive aufgreift und es sich, anders als Eva Biringers Nachtkritik behauptet, nicht so bequem macht, in einer auf die feministische Sicht verkürzten Interpretation stecken zu bleiben.
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''Wird Tilmann Köhlers Inszenierung den Intensionen von Christa Wolf gerecht, oder was verfolgt er überhaupt mit dieser Stoffwahl? Das ist das große Problem der Inszenierung, die sich da nicht wirklich positioniert. Nicht die Stoffwahl ist das Problem, sondern die Umsetzung. Köhler hat durch die Bearbeitung des Medea-Stoffes durch Christa Wolf ja schon die halbe Miete. Er muss sich nicht mehr selbst um eine bestimmte Aktualisierung des Mythenstoffs und eine neue Lesart der Medea bemühen. Was Köhler dann allerdings macht, ist die Reduzierung auf die reine Textwiedergabe, bei der die Inszenierung versucht, aus den verschiedenen Stimmen des Romans eine sparsame Spielhandlung zu formen. Im Programmheft wird in einem Text von Christa Wolf auf das klassische Altertum als unerschöpflicher Brunnen für das Abendland in Bezug auf Ideen, Kunstmaximen, Staatstheorien, Philosophien und der großen Utopie von Demokratie hingewiesen. Sie kritisiert aber auch die Verbindung dieser über die Jahrhunderte entstandenen abendländischen Werte mit dem „rasenden technischen Fortschritt der Neuzeit“ als „Wahndenken“.
Klassischer Humanismus und Kapitalismuskritik sowie Kritik an patriarchalen, hierarchischen Gesellschaftsstrukturen und verfestigten Eigentumsverhältnissen in Hinblick auf Verteilungskriege und Ausbeutung der dritten Welt. Das ist ein Problem nicht nur der Zeit des Zweiten Golfkriegs. Sündenbock-Problematik und Populismus sind wieder in aller Munde, auch wenn im Buch kein wirklicher Populist in Aktion tritt. Akamas hört man nicht zum Volk reden. Die Stimmen reflektieren nur das Geschehen, versuchen sich davon zu entschulden oder es als unabwendbar (man könnte auch alternativlos sagen) darzustellen. Eigentlich schreit der Roman geradezu nach einer multimedialen Umsetzung, die diesem Kammerspiel mehr Wirkung geben würde. Die elektro-minimalistische Live-Musik von Michael Metzler und das Puppenspiel von Johanna Kolberg als Medeas Vertraute Lyssa sind ja ein Weg dahin. In dieser Hinsicht bleibt Köhlers Inszenierung aber viel zu blass für heutiges Regietheater. Manche mögen das sicher auch als wohltuend empfinden. Allerdings geht die politische Dimension des Buchs dabei baden.'' schreibt Stefan Bock am 7. April 2018 auf KULTURA-EXTRA
Knöcheltief im Wasser steht Maren Eggert zweieinhalb Stunden lang als Medea auf der Bühne des [i]Deutschen Theater Berlin[/i]. Mit Jason kam Medea übers Meer als „Flüchtling“ aus Kolchis nach Korinth. Diese Fluchtgeschichte lässt sie niemals los, immer wird sie eine Fremde in Korinth sein. In ihrem Roman [i]Medea. Stimmen[/i] hat Christa Wolf gezeigt, wie Medea ihr Fremdsein zum Verhängnis wird, weil der Fremde den sogenannten Einheimischen unheimlich ist, vor allem, wenn er sich, wie Medea, der Anpassung widersetzt. Regisseur Tilman Köhler greift mit [i]Medea. Stimmen[/i] einen Stoff auf, der heute so aktuell wie 1996 ist. Die Premiere fand am 5. April 2018 statt. Weiterlesen →