Choreographie: Marco Goecke / Pina Bausch Premiere: 10. Juni 2023 Staatsballett in der Staatsoper Unter der Linden Berlin
Zum Inhalt: »Ich bin der Ansicht, dass die Musik ihrem Wesen nach unfähig ist, irgendetwas ›auszudrücken‹, was es auch sein möge: ein Gefühl, eine Haltung, einen psychologischen Zustand, ein Naturphänomen oder was sonst. Der ›Ausdruck‹ ist nie eine immanente Eigenschaft der Musik gewesen, und auf keine Weise ist ihre Daseinsberechtigung vom ›Ausdruck‹ abhängig.«, so die Überzeugung des Komponisten Igor Strawinsky, der nicht nur die Musik, sondern auch die Welt des Tanzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts revolutionierte.
Kompromisslos in seinen Überzeugungen provozierte er seine Zeitgenossen nicht nur mit seinen Ansichten, sondern auch mit seinen Kompositionen. Die Ballets Russes haben eine ganze Reihe seiner Werke zur Uraufführung gebracht, darunter das Ballett PETRUSCHKA und das revolutionäre FRÜHLINGSOPFER, das als LE SACRE DU PRINTEMPS in Paris für Aufruhr sorgte. Das Staatsballett Berlin präsentiert diese beiden Schlüsselwerke der Tanz- und Musiktheater-Geschichte in zwei jüngeren Inszenierungen.
PETRUSCHKA Musik: Igor Strawinsky Choreographie: Marco Goecke Bühne und Kostüme: Michaela Springer Licht: Udo Haberland Dramaturgie: Michael Küster Choreographische Einstudierung: Nicole Kohlmann Musikalische Leitung: Giuseppe Mentuccia Staatskapelle Berlin Tänzer:innen des Staatsballetts Berlin
DAS FRÜHLINGSOPFER Musik: Igor Strawinsky Inszenierung und Choreographie: Pina Bausch Bühne und Kostüm: Rolf Borzik Mitarbeit: Hans Pop Künstlerische Leitung Einstudierung 2023: Azusa Seyama-Prioville Probenleitung: Scott Jennings, Thusnelda Mercy, Jorge Puerta Armenta, Kenji Takagi, Anna Wehsarg, Tsai-Chin Yu Musikalische Leitung: Giuseppe Mentuccia Staatskapelle Berlin Tänzer:innen des Staatsballetts Berlin
Mit der Puppe im Zentrum der Jahrmarkt-Szenerie passt Strawinskys „Petruschka“ sehr gut zu den abgehackten Goecke-Bewegungen, die Signatur seines Stils sind. Im wie üblich sehr ausführlichen Programmheft beleuchtet die finnische Tanzhistorikerin Hanna Järvinen die weiteren Schwierigkeiten, die dieses Stück aus dem Jahr 1911 bei den Proben aufwarf. Die Figur des „Mohren“ mit ihren rassistischen Stereotypen und die Tradition des Black-Facing sind im Jahr 2023 nicht mehr vermittelbar, deswegen spielt er in der sehr abstrakten Choreographie von Goecke keine Rolle mehr.
Nach Verhandlungen mit der Pina Bausch Foundation gelang es dem Staatsballett, die Rechte am Wuppertaler Meisterwerk „Das Frühlingsopfer“ (1975) zu bekommen. Auf dem Torfmull, der in der Pause hereingekarrt wurde, wird jeder Schritt zur Belastung. Die Frauen des Ensembles werden zu den aufwühlenden Strawinsky-Klängen von ihren männlichen Kollegen verfolgt und in die Ecke gedrängt. Diese Choreographie eines sehr archaischen Geschlechterkampfs wurde von der Japanerin Azusa Seyama-Prioville einstudiert und von Tänzer*innen aus der Uraufführung begleitet.
Sichtlich mitgenommen von dieser strapaziösen Doppel-Choreographie wurde das Staatsballett gefeiert. Nach den drei Vorstellungen in dieser Woche folgen nur noch zwei bereits ausverkaufte Abende in der Staatsoper, in der kommenden Spielzeit ist keine Strawinsky-Wiederaufnahme geplant.
Ein energiegeladener Abend mit unterschiedlichen Facetten
1 Jahr her.
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Kritik
''Die Handlung des Originalballetts, bei der es um ein heidnisches Fruchtbarkeitsritual geht, wird bei Pina Bausch auf den Geschlechterkampf übertragen. Körper prallen im wahrsten Sinn des Wortes aufeinander. Das Opfer wird mit einem roten Kleid markiert und dann vom Anführer der Männergruppe gepackt und ins leere Zentrum gezerrt. Das wirkt wie eine Vergewaltigung. Am Ende tanzt sich die Frau zu Tode.
Es gibt starke theatrale Bilder und sehr viel Energie, aber anders als bei Marco Goecke. Während es bei Goecke um Geschwindigkeit und Präzision geht, geht es bei Pina Bausch um physische Anstrengung und den archaischen Kampf. Beides hat Kraft und wurde vom Premierenpublikum zu Recht gefeiert. Dieser Strawinsky-Abend des Staatsballetts ist ein Adrenalinschub.'' schreibt Oliver Kranz auf rbbKultur
''Die Inszenierung hatte schon vor sieben Jahren in Zürich Premiere, und Nicole Kohlmann studierte sie nunmehr mit Tänzerinnen und Tänzern des Staatsballetts Berlin ein; in der Titelrolle war Alexandre Cagnat zu erleben, den Scharlatan tanzte Federico Spallitta, den Rivalen (eigentlich den "Mohren") David Soares und die Ballerina Alizée Sicre. Bis heute machen Choreografen einen Riesenbogen um das rassistische Grundproblem des Stücks, nämlich: der eifersüchtige "Mohr" (heutzutage meistens als so genannter Rivale umfunktioniert) tötet Petruschka, weil er meint, dass er ihm die Ballerina, in die er selbst vernarrt ist, weggenommen hat o.s.ä.; eine Art Othello des Tanzes also.
Goecke seinerseits verlierte und verliert sich in feingliedrigste Detailversessenheiten; Arme, Hände, Finger und Gesichtsmuskeln, alles sieht marionettig aus. Das machte er perfekt und konsequent. Hätte es allerdings nicht die superbe Einführung in dem Programmheft-Beitrag von Hanna Jaervinen gegeben, hätte ich schlicht nicht gewusst, was Goecke mir da eigentlich mit seiner Sicht der Dinge in Petruschka sagen wollte. Alles in allem freilich: Toll getanzt.'' schreibt Andre Sokolowski am 11. Juni 2023 auf KULTURA-EXTRA