Kritik
''Bleibt die Inszenierung in ihren Mitteln da noch sehr sparsam, greift sie dann aber auch zu von einer Livekamera in Großaufnahme auf einen Fadenvorhang (Bühne: Alexandre Corazzola) projizierten Videos (Nico Parisius). Teilweise ein Rausch der Bilder und Farben und auch die durch Oktay Önder in tiefrotem Kostüm (von Jan Friedrich) mit Fußverästelungen personifizierte Blutbuche schwebt vom Bühnenhimmel. Musikalisch untermalt wird das durch den Song Nightcall, der für Kim de l’Horizon eine besondere Bedeutung hat. „There's something inside you it's hard to explain“, ein Text, der fast programmatisch für dieses Buch ist. Nora Buzalka (in Vertretung für die erkrankte Carmen Steinert) spielt im geringelten Shirt auf Knien das Kind, das nicht Mann noch Frau werden will und ihre Finger wie auch die Blutbuche nach Lösungen anfleht. Monsterhaft erscheinen ihm die Großmutter, die hartes Brot mit den Zähnen knackt und in Ei und Milch brät, oder die gestresste Mutter (Julia Buchmann) als Eishexe im blauen Gewand mit Hörnern, die nur auf Schweizerdeutsch spricht.
Das sind vielleicht die eindrücklichsten Szenen, die von der Angst des Kinds, anders zu sein, berichten. Es will sich unsichtbar machen, hat kein Körpergefühl. Dazu kommen die Schilderungen der anderen, die von anonymen Sexerfahrungen der erwachsenen Kim mit schwulen Männern berichten. „… ich besorge ihnen einen Körper, an dem sie sich ihre Männlichkeit besorgen können.“ Harte Sexualpraktiken und schwuler Körperkult werden zum Kampf über die Hoheit am eigenen Körper. Auch das beeindruckt stark. Der Vater (Peer) spielt hier nur eine kleine Nebenrolle. Auch die Exkursionen zum „Nationalen Überdichter und mit Halbgottesflor bekränzten Germanenbürger Johann Wolfgang von zu und ab Goethe“ und dem Landschaftsarchitekten Heinrich Friedrich Wiepking (Michael Ruchter) mit unaufgearbeiteter Nazivergangenheit werden nur leicht humoristisch gestreift.
Die Inszenierung fixiert sich auf die zwei „Meeren“, deren Geschichte exemplarisch für viele Frauen der Geschichte stehen. Die Mutter, die das Schreiben eines Lebenslaufs der demenzkranken Großmutter an Kim abgibt, hat dafür einen langen Stammbaum von „Frauen, Meeren, Heroinnen“ bis zur Großmeer verfasst. Auch Kim scheitert letztlich am Lebenlauf der Großmutter, da die Mutter nicht über die damals 15jährig schwanger gewordene Schwester der Großmutter, deren Namen sie trägt, reden will. Es liegt nahe, dass sie vom Urgroßvater missbraucht wurde und in ein Frauengefängnis für unverheiratet Schwangere gekommen ist. Letztlich schreibt Kim ihrer Großmeer einen fiktiven Brief, in dem sie all diese unbeantworteten Fragen stellt. Dies steht am Ende dieser sehr sehenswerten Inszenierung, bei der alle zum Popsong Lose it von Austra tanzen und nacheinander an die Rampe treten und in Englisch den letzten Brief an die Großmutter sprechen.'' schreibt Stefan Bock am 17. April 2025 auf KULTURA-EXTRA