NINA in «Die Möwe» I.

1. Aufzug

Nina, Arkadina und Treplew 

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Der Vorhang geht auf; man erblickt den See; der Mond schwebt über dem Horizont, im Wasser sein Spiegelbild; auf einem großen Stein sitzt Nina Sarjetschnaja, ganz in Weiß.

NINA: 
Menschen, Löwen, Adler und Feldhühner, geweihtragende Hirsche, Gänse, Spinnen, schweigsame Fische, die im Wasser wohnten, Seesterne und all die Wesen, die dem Auge nicht sichtbar waren, mit einem Wort: alles Leben, alles Leben, alles Leben ist erloschen, nachdem es seinen traurigen Kreislauf vollendet hat … Seit vielen tausend Äonen bereits trägt die Erde nicht ein Lebewesen mehr, und dieser arme Mond läßt sein Licht vergeblich strahlen. Nicht erwachen auf der Wiese mit Geschrei die Kraniche, nicht mehr hört man die Maikäfer schwirren in den Lindenhainen. Es ist so kalt, so kalt, so kalt. Es ist so leer, so leer, so leer. Es ist so schaurig, so schaurig, schaurig. (Pause.) Die Körper der Lebewesen sind zu Staub zerfallen, die ewige Materie hat sie in Steine, in Wasser, in Wolken verwandelt, und ihrer aller Seelen sind in eine einzige zusammengeflossen. Diese eine, gemeinsame Weltseele bin ich … ich ... In mir ist die Seele Alexanders des Großen und Cäsars, Napoleons und die Seele des letzten Blutegels. In mir ist das Bewußtsein der Menschen mit den Instinkten der Tiere verschmolzen, und ich erinnere mich an alles, alles, alles, und jedes Leben durchlebe ich in mir selbst von neuem. (Es zeigen sich Irrlichter.) [...] Ich bin so einsam. Einmal in hundert Jahren öffne ich den Mund, um zu reden, und meine Stimme klingt traurig in dieser Öde, und niemand hört mich … Auch ihr, bleiche Lichter, hört mich nicht … Vor dem Morgengrauen gebiert euch der faulige Sumpf, und ihr irret umher, bis das Frührot schimmert, gedanken- und willenlos, ohne das Vibrieren des Lebens. Aus Furcht, daß nicht in euch Leben entstehe, läßt der Teufel, der Vater der ewigen Materie, jeden Augenblick in euch, gleichwie in den Steinen und im Wasser, die Atome durcheinanderwirbeln, daß ihr unaufhörlich euch wandelt. Im Weltall bleibt beständig und unveränderlich einzig der Geist. (Pause.) Wie ein Gefangener, in einen tiefen und leeren Brunnen geworfen, weiß ich nicht, wo ich bin und was meiner harret. Nur so viel ist mir kund, daß ich in dem harten, erbitterten Kampfe mit dem Teufel, dem Urprinzip der materiellen Kräfte, siegen werde und daß alsdann, wenn Materie und Geist in herrlicher Harmonie sich vereinigt haben, die Herrschaft des Weltwillens anbrechen wird. Das aber wird erst allmählich geschehen, wenn im Verlauf einer langen, langen Reihe von Jahrtausenden der Mond und der hell leuchtende Sirius und die Erde in Staub verwandelt sein werden. Bis dahin herrschet nur Schrecken, Schrecken … (Pause, im Hintergrunde des Sees erscheinen zwei rote Punkte.) Dort nahet schon, mein mächtiger Gegner, der Teufel – ich sehe seine schrecklichen, blutroten Augen …


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