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1. Bild: Bei Nacht und Nebel, 1. Szene
Klara und der Gesangspädagoge Josef Reißner.
Möbliertes Zimmer mit Klavier; im Hintergrund ein Alkoven. Auf dem Tisch brennt eine Lampe. Daneben liegt eine gepackte Reisetasche.
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KLARA: Es läßt sich mit Worten nicht schildern, Else, was ich, während wir, Josef und du und ich, Abend für Abend beieinander saßen – was ich während dieser Abende an Folterqualen ausgestanden habe! Josef und ich, wir hatten einander kaum einmal die Hand gedrückt – es war ein Augenblick, in dem ich das Bewußtsein, einen eigenen Willen zu haben, vollständig verloren hatte –, da offenbarten sich mir auch schon die Folgen meiner Bewußtlosigkeit. Und nun saß ich mit euch beiden zusammen, saß dir, Else, Auge in Auge gegenüber, fühlte bei jedem Schluck, den du trankst, den Argwohn, mit dem du mich ins Auge faßtest, und mußte mir dabei gestehen, daß ich, deine Freundin, schlecht genug war, um dich durch mein Benehmen immer und immer wieder über den wirklichen Sachverhalt hinwegzutäuschen! Aus dieser grauenhaften Weinstube, in der wir so oft beieinander saßen, ist mir jedes Bild und jedes Licht und jedes Gesicht wie ein unaufhörlich bohrendes Messer in Erinnerung! Und dann kam das Fürchterlichste! Mir krampfen sich heute noch die Finger zusammen, wenn ich an die Stunden zurückdenke! Meine Mutter schrieb mir, der schweizerische Bundesrat habe einstimmig beschlossen, ich solle am Schützenfest in Glarus die Partie der Eva in der »Schöpfung« von Haydn singen. Ich erschien mir aus den Himmeln meiner glühenden begeisterten Liebe für meine Kunst wie durch einen unerschütterlichen Blitzstrahl auf die Erde genagelt! Die erste große Aufgabe, die sich mir bietet, mußte mich in dieser Lage finden! Meine Mutter telegraphierte mir. Wann kommst du? Wann darf ich dich erwarten? – Und ich . . . und ich . . . aber meine künstlerische Zukunft durfte und konnte an diesem unseligen Zusammentreffen nicht scheitern! Drei Tage und drei Nächte habe ich eingeschlossen in meinem Zimmer vor Verzweiflung in mich hineingeschrien und mir die Finger blutig gebissen, um durch den körperlichen Schmerz meine Seelenqualen zu betäuben. Da fiel mein Blick zufällig auf eine Zeitungsannonce, deren Abfassung gar keinen Zweifel darüber ließ, worauf sie sich bezog. Und diese Annonce stand so gebieterisch vor meiner gemarterten Seele, als wäre mein dreitägiges Jammern um Gnade und Erbarmen endlich, endlich von einem höheren Wesen erhört worden! Ich hätte es für die himmelschreiendste Ruchlosigkeit gehalten, dem Wink nicht blindlings zu folgen. Am gleichen Abend ging ich zum erstenmal zu dieser Frau Fischer. Nachdem sich ihre Giftmischerei dann glücklich bei mir bewährt hatte, da war das Eidgenössische Schützenfest in Glarus längst vorbei und ich, ich war so zerrüttet, so elend, daß ich ein Vierteljahr lang überhaupt an kein Singen mehr denken konnte! – – Else! Hast du angesichts meines fürchterlichen Jammers denn gar kein Wort der Vergebung, des Erbarmens für mich?!