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1. Akt, 6. Szene
Kriemhild und Gunther.
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KRIEMHILD: Entscheide nicht so rasch!
Wenn du denn auch mit deiner armen Schwester
Und ihrem Jammer schneller fertig wirst,
Wie sie in bessrer Zeit mit deiner Hand,
Als sie der wüt'ge Hirsch dir aufgeschlitzt;
Wenn du dem Schmerz, der ruhig sagen kann:
Ist meinesgleichen irgend noch auf Erden,
So will ich lachen und mich selbst verspotten,
Und alle segnen, die ich sonst verflucht!
Wenn du ihm kalt den kleinsten Trost verweigerst
Und ihn von hinnen schreckst mit finstern Brauen:
Erwäg es doch und nimm dein Wort zurück.
Ich bin's ja nicht allein, die Klage ruft,
Es ruft das ganze Land mit mir, das Kind
Braucht seinen ersten Odemzug dazu,
Der Greis den letzten, Bräutigam und Braut
Den köstlichsten, du wirst es schaudernd sehn,
Wenn's dir gefällt, sie vor den Thron zu laden,
Daß jedes Alter, jeder Stand erscheint.
Denn, wie die brechend-schwere Donnerwolke,
Hängt diese Blutschuld über ihnen allen
Und dräut mit jedem Augenblicke mehr.
Die schwangern Weiber zittern, zu gebären,
Weil sie nicht wissen, ob kein Ungeheuer
In ihrem Mutterschoß herangereift,
Und daß uns Sonn und Mond noch immer leuchten,
Gilt manchem schon als Wunder der Natur.
Wenn du dein königliches Amt versäumst,
So könnten sie zur Eigenhülfe greifen,
Wie's einst geschah, bevor's noch Kön'ge gab,
Und wenn sich alle wild zusammenrotten,
So dürften sie, da du nun einmal fürchtest,
Noch fürchterlicher, als der Tronjer, sein!