Kritik
''Ganze 4 Stunden inklusive einer Pause dauert die Inszenierung Hübners an der Kammer 1 im Schauspielhaus Magdeburg. Schimmelpfennig hat das Epos um die Moskauer und St. Petersburger Adelsfamilien Bolkonski, Besuchow, Kuragin und Rostow während der Napoleonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts stark gerafft, und Hübner und sein Dramaturg Bastian Lomsché haben als heutiges Äquivalent und Rahmenhandlung eine aktuelle Magdeburger Familie hinzuerfunden. Mutter Marianne (Iris Albrecht) wird 80 und von ihrer Familie mit einer Party fast zu Tode überrascht. Eine Familie, die in ihren Ansichten nicht unterschiedlicher sein kann. Vom spießigen Ossi-Ehepaar mit Sohn bei der Bundeswehr, der bald nach Litauen abkommandiert wird, über linke Staatsanwaltstochter aus Köln mit coolem Rappersohn bis zum Lederjackenmacker mit Alkoholproblem und Muttikomplex ist hier alles am Multifunktionstisch mit Wachstuchdecke vereint. Dass die bald alle bezüglich Meinungskorridor, Bedrohungslage, Nazis und Antifa übereinander herfallen, ist vorprogrammiert und katapultiert die erschrockene Jubilarin wie ein Déjà-vu als schwangere Lisa ins alte Russland.
Das ist als Einstieg gar nicht schlecht gedacht und führt direkt in den Salon von Anna Pawlowna Scherer (Bettina Schneider) nach St. Petersburg, wo noch wesentlich zivilisierter über Krieg und Frieden philosophiert wird. Der Krieg mit Napoleon scheint da noch weit entfernt und wir lernen erstmal nacheinander die wichtigsten ProtagonistInnen der Familien in ihren Häusern kennen. Da wird viel geplaudert, Champagner getrunken und getänzelt. Die Herren tragen rote, die Damen weiße Kostüme (Clemens Leander). Mal klassisch mit Schostakowitsch, mal mit Katjuscha zum Akkordeon werden die Szenen begleitet. Da läuft auch ein verkleideter russischer Bär zum Schabernack der jungen Offiziere über die Bühne. Die Regie hat recht viele Einfälle. Auch den, den Körperertüchtigung liebenden, preußisch steifen Fürst Bolkonski und den nach einer Mitgift für seinen Sohn buhlenden Fürst Kuragin von einem Darsteller spielen zu lassen. Dafür setzt sich Rainer Frank als Bolkonski seine Pickelhaube mal auf dann als Kuragin wieder ab. Auch sonst dürfte man als des Stoffs nicht ganz mächtig so einige Probleme bei der Zuordnung der ständig wechselnden Rollen haben.
Im Mittelpunkt steht auch hier der junge, aus Paris heimgekehrte Schön- und Freigeist Pierre Besuchow (Nora Buzalka), der von seinem sterbenden Vater, Graf Besuchow (schön röchelnd: Iris Albrecht), als Alleinerbe eingesetzt wird und fortan mit dem Geld, der Liebe, Moral und seiner andauernden Sinnsuche hadert. Die Schicksale der anderen kriegstüchtigen Söhne der Familien Bolkonski, Rostow und Kuragin sowie ihrer zugehörigen Gattinnen und Liebschaften werden mehr wie beim lustigen Ringelreigen an der Rampe dargeboten. Für Figurenentwicklung bleibt auch in 4 Stunden nicht viel Zeit. Schimmelpfennigs Textfassung versucht die wichtigsten Stationen des Romans abzuhandeln. Drei der vielen Schlachten hat man sich für den Abend ausgesucht. Zwischen den Friedensszenen geht es in die Schlachten von Schöngrabern vor Wien, Austerlitz und schließlich in die blutigste nach Borodino. Da wird ein Podest hereingeschoben und das Ensemble schildert von oben mal einzeln, meist aber chorisch die schrecklichen Ereignisse, was nicht ohne Wirkung bleibt.'' schreibt Stefan Bock am 3. Juni 2025 auf KULTURA-EXTRA