Zum Inhalt: The Hunger erforscht den Exzess. Inspiriert von den historischen Ereignissen, die im Roman Der fremde Zeuge des argentinischen Schriftstellers Juan José Saer fiktionalisiert werden, folgt The Hunger den Erfahrungen europäischer Kolonisatoren in der Region des Rio de la Plata in Südamerika Anfang des 16. Jahrhunderts. Eine indigene Gruppe überfällt im Norden des heutigen Argentiniens spanische Kolonisatoren. Es gibt nur einen Überlebenden, er gliedert sich in die Stammesgesellschaft der Colastiné ein. Viel später wird er von den Spaniern befreit und bezeugt, reflektiert und erinnert seine Wahrnehmungen.
In The Hunger übertragen sich kannibalische Rituale auf andere Formen der Gier: Vom Kolonialismus über den Konsumrausch des heutigen Kapitalismus bis hin zur Hyperproduktion eines endlosen Jetzt in den sozialen Netzwerken. Zyklische und kollektive Rituale sollen dazu beitragen, einen fragilen Realitätssinn, eine Art „Normalität” mit eigenen sozialen Konventionen und Regeln aufrechtzuerhalten. „Die Verwandlung des Tabus in ein Totem“ hallt in neuen Formen von Grenzverschiebungen wider, während die eigene Intimität von den Repräsentationslogiken der digitalen Welt verschlungen werden. Existiert die Wirklichkeit erst, wenn jemand sie beobachtet?
von und mit: Candaş Baş, Adaya Berkovich, Alexandra Bódi, Emil Bordás, Chloe Chua, Oksana Chupryniuk, Deborah Dalla Valle, WooSang Jeon, Moritz Lucht, Thulani Lord Mgidi, Steph Quinci, Anne Ratte-Polle, Miki Shoji, Shiori Sumikawa
Konzept, Regie & Choreographie: Constanza Macras Bühne: Simon Lesemann Kostüme: Slavna Martinovic Musik: Robert Lippok Komposition Chormusik: Kristina Lösche-Löwensen Live-Kamera: Greta Markurt Dramaturgie: Leonie Hahn, Carmen Mehnert, Tamara Saphir Eine Koproduktion mit Constanza Macras | DorkyPark
''Auf die Bühne hat Simon Lesemann eine kleine hölzerne Tribüne, ein paar Pappmaché-Klippen und einen Gerüstturm gebaut. Dazwischen bewegen sich die TänzerInnen als Möwen, Konquistadoren, Eingeborene bei orgiastisch verknäulten Sexandeutungen und kannibalischen Ritualen oder bei Tänzen einer barocken Hochzeitsgesellschaft. Dazu spricht Anne Ratte Polle Texte aus dem Buch oder zieht die Ehe als Macht-erhaltende Institution und rein monetäre Verbindung gestern wie heute in Frage.
Das hat durchaus Witz, wenn auch die einzelnen Tanz- und Sprech-Teile, die im Stücktext thematisch sortiert, doch recht ungeordnet auf das Publikum einprasseln. Die Tanzeinlagen haben aber ihre ganz typische Macras-Qualität, die aus allen Bereichen des modernen Tanzes, Urban- oder Break-Dance ihre Quellen zieht. Irgendwann landet man auch wieder mit Trachten bei den deutschen Bajuwaren, oder Anne Ratte-Polle erzählt von einem Casting für eine Butterwerbung, bei dem sie in einem Kuh-Kostüm auftreten sollte. Sie berichtet vom Niedergang des Reality-TV, das nunmehr in den Social-Media-Kanälen zu finden ist. Mukbang-Essensvideos, bei denen junge asiatische Frauen mehr als 10 Kilo verdrücken, flimmern über die Gaze des Gerüstturms und ziehen die Parallele zum kannibalischen Ritual des indigenen Stammes aus dem Roman. Der Konsum erstreckt sich heute aber nicht mehr nur auf Waren, sondern auch auf die Gefühle, ist eine weitere Erkenntnis des Abends, der von Karl Marx über Hannah Arendts in trauter Gemeinsamkeit sein Ende findet.'' schreibt Stefan Bock am 20. September 2024 auf KULTURA-EXTRA
Constanza Macras ist die Königin des Mash-up: sie mixt hochassoziativ Tanz-Stile und Motive, springt von Themen-Fragment zu Video-Schnipsel, quer über die Kontinente und durch die Zeiten, das alles in rasantem Tempo und mit ihrem sehr diversen DorkyPark-Ensemble. Als Gast ist zum Spielzeitauftakt der Volksbühne wieder Anne Ratte-Polle dabei, die das wilde Treiben mit großen Augen verfolgt und kurze Textpassagen einstreut, die sie ironisch zerdehnt.
Manchmal gelingen schöne Szenen, z.B. wenn Ratte-Polle den gesamten Abend mit wenigen Sätzen parodistich zusammenfasst. Stringenz ist nicht die Stärke von „The Hunger“, in dem überbordenden Wust an Ideen und Motiven, den Macras mit gleich drei Dramaturginnen entwickelt hat, gibt es kaum gedankliche Schneisen oder gar einen roten Faden. Macras-Abende werden immer dann richtig gut, wenn es ihr gelingt, ihren Hochenegrie-Mix aus Theater, Tanz und Themenschnipseln so zu konzipieren, dass der Betrachter noch eine Chance hat, in der rasanten Show ein Anliegen auszumachen, das die Szenen verbindet, die diesmal zu beliebig angeordnet wirken.
Jubel gab es dennoch am Rosa Luxemburg-Platz, der neben den tänzerischen Leistungen sicher auch dem Durchhalte-Willen des Volksbühnen-Kollektivs galt, dem es gelang, trotz der unklaren Zukunft nach dem Tod des Intendanten einen Premieren-Spielplan für die erste Spielzeit-Hälfte auf die Beine zu stellen, der sich vor andere Häusern nicht verstecken muss. Das Publikum erwartet eine Mischung aus neuen Namen und bekannten Säulen wie Constanza Macras.