Kritik
Ein in mehrfacher Hinsicht ganz besonderes Musical, vielleicht, weil es auf einer tatsächlichen Person des öffentlichen Lebens beruht, die in Argentinien noch immer Kultstatus innehat. Vor allem zum Muttertag werden auch heute noch massenweise Blumen auf dem Grab von Eva Perón niedergelegt, für die sogenannte "Mutter von Argentinien", die nicht älter als 33 Jahre werden durfte. Und genau dort beginnt auch unsere Geschichte: am Ende. Che, ein anderer uns wohlbekannter Argentinier, kommentiert den tragischen Tod der Volksheldin ein wenig spöttisch und mit spitzer Zunge. Was eine andere Besonderheit dieses Musicals ist: keine Angst vor Kontroversen. Evita wird nicht als unfehlbare Heilige dargestellt, wird nicht disneymäßig weichgezeichnet. Auch alle Unstimmigkeiten ihre Person betreffend werden aufgegriffen, sei es ihre gnadenlose Zielstrebigkeit auf dem Weg nach oben, ihre Promiskuität bevor sie Perón trifft oder die Kälte, mit der sie Nebenbuhlerinnen ausschaltet. Entweder weist Che/Moderator Glenn Carter aus dem Off süffisant auf diese Ungereimtheiten hin oder Eva selbst ( Lucy O'Byrne ) zeigt es: wie die erst Fünfzehnjährige, als fünfter Bastard eines Gutsbesitzers in Armut und Schande geboren, ihrem Traum von Erfolg und Ruhm skrupellos nachgeht. Ein Tangosänger ist ihr Trittbrett zum Erfolg im Buenos Aires, wird dann aber rigoros zurückgelassen, als Eva erstes Aufsehen erregt und langsam aber sicher selbst berühmt wird. Als aufmüpfige Radiomoderatorin wird sie so bekannt, dass sie schließlich zu so eleganten Parties eingeladen wird, dass sie dem bekannten General Juan Perón ( Mike Sterling ) begegnen kann. Die beiden verlieben sich sofort ineinander, gegen alle Widerstände. Der argentinischen High Society ist sie zu gewöhnlich und seinen Militärs viel zu selbstständig. Als Heimchen am Herd kann sie sich wahrlich niemand vorstellen, die mondäne, schöne und vor allem schlaue Evita. Das einfache Volk jedoch liebt sie, sieht zu ihr auf. Und sie weiß dieser Anbetung den richtigen Zunder zu geben, um das Feuer am Laufen zu halten.
Als Perón verhaftet wird, mobilisiert sie das einfache Volk zu wahren Proteststürmen. Nachdem er wieder frei ist, heiraten Juan und Eva in aller Heimlichkeit. Danach ist sie von seiner Seite nicht mehr wegzudenken. Sie ist Herz und Gesicht Argentiniens. Als Perón schließlich Präsident wird, ist sie als erste Grande Dame höher aufgestiegen, als es sich jemals jemand hätte vorstellen können.
Aber es endet, wo es auch begonnen hat: am Sterbebett der schönen Evita. Nur 33 Jahre alt durfte sie werden, bevor Gebärmutterhalskrebs ihr Leben und ihre beispiellose Karriere beendete. Kein Wunder, dass diese spannende Lebensgeschichte und das tragische frühe Ende Tim Rice und Andrew Lloyd Webber zu einem Musical inspirierte! Das schreit ja geradezu nach großen Gesten! Und das Musical liefert: Eva in prachtvoller großer Robe, der Schmuck glänzt verheißungsvoll im Scheinwerferlicht und sie hebt die schlanken Arme, um scheinbar ganz Argentinien zu umschließen, während es erklingt, das unsterblich schöne Lied: Don' cry for me Argentina...
Lucy O'Bryne ist eine unglaublich stimmgewaltige Solistin, mit riesiger Bühnenpräsenz für eine solch zarte Gestalt. Sie liefert eine großartige Arbeit ab, spielt eine zielstrebige, ehrgeizige, aber manchmal auch Zartheit durchscheinen-lassende Eva. Überhaupt sind alle Rollen bis in die kleinste hinein sehr gut besetzt, selbst die namenlose Mätresse, die nur einen Song singt, ist sehr, sehr gut. Aber neben der Titelheldin ist es vor allem der Erzähler, der Widersacher, der Mitwisser, "Che" der mich begeistert hat. Ein wundervolles Stück, ernster als so manches Musical, das ich in letzter Zeit gesehen habe, aber dafür auch interessanter und nachdenklicher. Die Musikmischung aus Musicalkrachern, Operette und traditionellen lateinamerikanischen Klängen ist unvergleichlich und macht Evita zu etwas ganz Eigenem. Nicht verpassen! Nur noch an diesem Wochenende im Admiralspalast Berlin zu erleben. Übrigens komplett auf englisch, aber mit deutschen Übertiteln.