Zum Inhalt: Robert Lepage entwickelt ein neues Stück mit Spieler_innen aus dem Ensemble der Schaubühne. Zu Beginn der Proben gab es keinen Text, keine Geschichte, keine Figuren, nur einen Gegenstand: ein Kartenspiel. Die vier Kartenfarben Herz, Kreuz, Pik und Karo ordnet er der Liebe, dem Glauben, dem Krieg und dem Geld zu. Aus den Karten, ihren Farbfamilien, Figuren und Zahlen entstanden in Improvisationen ganze Welten, unterschiedlichste Figuren und vier miteinander verwobene Handlungsstränge, die sich über acht Jahrzehnte deutscher Geschichte erstrecken. Sie erzählen von Liebe, vom Suchen nach Glück und der Versuchung durch den Teufel, von Hoffnung, Schicksal und Trauma. Kriege markieren immer wieder eine Zäsur, ein Ende und den Neubeginn einer weiteren Geschichte: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wird ein Baby in einem Nonnenkloster abgegeben und wächst dort auf, um, kaum erwachsen, die junge Bundesrepublik in Richtung Paris zu verlassen. Als sie selbst Zwillinge bekommt, prophezeit ihr eine Tarot-Kartenlegerin Unheil und rät, die Kinder wegzugeben. Kurz nach dem Mauerfall und dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges verbringt ein westdeutsches Paar den Valentinstag in Baden-Baden. Weil man im Casino rauchen darf, verschlägt es die Ehefrau dorthin, wo sie das Glücksspiel für sich entdeckt und das unheilvolle Erbe ihrer Familie verspielt. Ein Soldat mit posttraumatischen Belastungsstörungen erzählt seiner Therapeutin davon, wie er seinen treuesten Kameraden bei einem Einsatz in Afghanistan verlor – einen Diensthund, engster Begleiter und doch aus Sicht des Militärs im Ernstfall nur Teil der Ausrüstung. Und kurz vor Ausbruch des russischen Angriffskrieges in der Ukraine möchte sich ein schwules Paar seinen Kinderwunsch mit einer Leihmutter erfüllen.
Mit: Damir Avdic, Stephanie Eidt, Christoph Gawenda, Magdalena Lermer, Bastian Reiber, Stefan Stern, Alina Vimbai Strähler
Regie: Robert Lepage Bühne: Robert Lepage / Ulla Willis Kostüme: Vanessa Sampaio Borgmann Video: Félix Fradet-Faguy Sound: Stefan Pinkernell Dramaturgie: Nils Haarmann Licht: Erich Schneider
''Die Handlung zersplittert über die unterschiedlich angelegten Akte etwas. Figuren tauchen im Folgeakt teils wieder auf, ohne dabei einem Muster zu folgen. Es gibt momenthafte Situationskomik, etwa wenn menschliche Intuition offensichtlich fehlgeleitet ist. So kann ein Seelsorger den getöteten Spürhund des verwundeten Soldaten Matthias nicht auf dessen Wunsch segnen, da der Hund in der Armee als Bestandteil der Ausrüstung und somit als Ding betrachtet wird. Juju spendet ihrem Ex-Mann Christian, der mit seinem Partner Jasko ein Kind kriegen möchte, ihre Eizelle. Er erklärt ihr, dass sie nicht die Mutter sein wird, da Eizelle und Sperma nur während der Prozedur als Baumaterial dienen.
Während wir in einer Szene geduldig mit einem Zauberer auf ein mögliches Gelingen seines Tricks warten, begegnen wir in der darauffolgenden Szene einem Paar in Momenten unmittelbarer Intimität und Streitlust. Der Duktus erscheint dabei dynamisch. Die insbesondere am Ende stark im Hier und Jetzt verankerte Szenerie wird durch die leicht variierte Wiederholung einer anfangs gesetzten Schlüsselszene gerahmt. Heitere Szenen voller Situationskomik wechseln mit dramatischen Szenen, in denen sich ein tragisches Zerwürfnis zuspitzt. In Erinnerung bleiben die starken Leistungen der wandelbaren Akteure. Als besonders bemerkenswert sticht Stephanie Eidts komisches Talent hervor, wenn sie geheimnisvoll-ambivalente oder respekteinflößende Figuren verkörpert. Doch auch die zwischen besonnener Gelassenheit, Mut und sichtlicher Aufgebrachtheit changierenden Figuren Alina Vimbai Strählers bleiben in Erinnerung.
Der fünfstündige Theaterabend über wild gewürfelte Schicksale und charismatische oder auch resignierte Figuren lässt einem die eigene Begrenztheit und Endlichkeit angesichts der Rätselhaftigkeit und Größe möglicher Willkür im Weltgeschehen bewusst werden.'' schreibt n. k. am 30. November 2024 auf KULTURA-EXTRA
Robert Lepage möchte nichts weniger als in einem großen Bogen durch die deutsch-deutsche Geschichte der vergangenen acht Jahrzehnte von der conditio humana und den menschlichen Schicksalsschlägen zu erzählen. Die Schaubühnen-Dramaturgie griff tief ins Regal der Philosophie-Klassiker des 20. Jahrhunderts mit längeren Passagen von Jean-Paul Sartre und Hannah Arendt.
Sehr viel Zeit nimmt sich Lepage für dieses Unterfangen. So viel Zeit, wie sie sonst nur noch Frank Castorf zugestanden wird. Lepage und sein Ensemble kosten die Längen aus, während die vier LED-Wände Szene für Szene einen neuen Hintergrund evozieren. Über die technische Brillanz dieses Bühnenbilds wurde in den vergangenen Tagen viel gejubelt. Doch inhaltlich bleibt der Abend über weite Strecken erschreckend banal. Die Stränge werden schlecht oder nur kolportagehaft verbunden.
Zustimimung zu #2: Drei Akte und mehr als drei Stunden zieht sich dies bis zur 2. Pause dahin. Erst im vierten und letzten Akt entsteht ein großes, melodramatisches Kammerspiel. In dieser letzten knappen Stunde wird ein Erzählstrang in all seiner Tragik und Komik entfaltet, endlich muss das Ensemble nicht mehr zur nächsten Miniatur hetzen. Der Plot steuert auf den 24. Februar 2022, den Tag der russischen Vollinvasion in der Ukraine zu. Als die Ex-Freundin und Eizellspenderin (Alina Vimbai Strähler) und der Berliner Künstler (Damir Avdic) verloren in der Kiewer Bahnhofs-Kulisse stehen und in den Luftschutzkeller flüchten, kann man nach diesem langen Abend die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören.