Zum Saisonschluss präsentiert die Deutsche Oper Berlin als konzertante Aufführung in der Reihe ihrer Premieren in erstklassiger Besetzung eine erstaunliche Entdeckung: die hierzulande selten zu hörende Oper "Hamlet" von Ambroise Thomas in der französischen Fassung aus dem Jahre 1868. Zugrunde liegt das bekannte makabre Familiendrama, das zuerst William Shakespeare etwa 1602 am dänischen Königshof ansiedelte. Alexandre Dumas der Ältere und Paul Maurice formten daraus ein französisches Bühnenstück, das wiederum die routinierten Librettisten Michel Carré und Jules Barbier zur Vorlage für den schon mit der Oper "Mignon" erfolgreichen Komponisten Ambroise Thomas bearbeiteten, der zwei Jahre nach der Uraufführung von "Hamlet" zum Chef des Pariser Konservatoriums avancierte.
Das Faszinierende an der "Hamlet"- Handlung ist der Umstand, dass man darin auf höchst fesselnde Weise verfolgen kann, wie der fatale Makel eines Brudermordes auf dem Königslevel unter zunächst ahnungslosen Verwandten das schleichende Gift einer untilgbaren Schuld verbreitet, die am Ende wieder Mord und Totschlag hervorbringt. In den Händen einer wie hier ganz hervorragenden Besetzung offenbart das Werk abseits jeder Routine alle heute so geschätzten Details einer Krimi-Handlung, und diese starke Wirkung wird in Form der konzertanten Aufführung eher noch konzentriert und auf die wesentlichen Aspekte fokussiert.
König Claudius (mit schönem Bass: Nicolas Testé) hat seinen Bruder mit Gift getötet, sich selbst zum König gemacht und heiratet wenig später die Witwe des Ermordeten, Königin Gertrude (mit fabelhaft ausdrucksstarkem Mezzo: Eve-Maud Hubeaux). Prinz Hamlet, der Sohn des ermordeten Königs (mit intensivem Bariton und suggestiver Gestik: Florian Sempey), bislang Ophélie versprochen, der Tochter des Polonius, ahnt zunächst nichts von der Intrige, der sein Vater zum Opfer gefallen ist. Ophélie ihrerseits (mit überragendem Koloratursopran: Diana Damrau) sieht der Heirat mit Hamlet entgegen. Da geschieht etwas Gespenstisches: der Geist des Ermordeten (mit kernig-dunklem Bass: Andrew Harris) erscheint Hamlet und fordert ihn auf, den Vater durch die Tötung des Mörders zu rächen.
Nun verändert sich Hamlets Charakter und Verhalten. Er brüskiert Ophélie und läßt eine Schauspieltruppe die mörderische Verschwörung als Bühnenstück aufführen, damit sich Claudius durch seine Betroffenheit selbst entlarvt. Enthüllung und folgende Konfrontation zwischen den Beteiligten bringen aber noch keine abschließende Klärung. Hamlet attackiert seine Mutter wegen ihrer allzu raschen Heirat mit dem Königsmörder und vernimmt später zufällig, dass Ophélies Vater Polonius gleichfalls in die Mordintrige verwickelt war. Damit sind die Liebe zu Ophélie wie auch die Freundschaft zu ihrem Bruder Laërte (Philippe Talbot) zerbrochen. Ophélie, die von den Hintergründen dieses Sinneswandels nicht ahnt, wählt im 4. Akt nach einer ergreifenden Wahnsinnsarie zur Begleitung durch einen zarten Summchor den Freitod im Wasser. Dieser ausführlichen Szene läßt der Komponist ein Satyrspiel folgen: zwei Grabräuber ( Philipp Jekal und Ya-Chung Huang) preisen die beseligende Wirkung des Weins. Dann erfährt Hamlet über Laërte vom Tode Ophélies, tötet Claudius und gibt sich selbst den Tod.
Neben den überragenden Solisten gebührt vor allem dem Francokanadier Yves Abel am Pult das Verdienst, durch unermüdlichen, fein abgestimmten Körpereinsatz sowohl dem hochkonzentrierten Orchester wie dem bestens präparierten Chor (Einstudierung: Jeremy Bines) eine blendende Leistung nach der anderen zu entlocken. In Erinnerung bleiben auch eine ganze Reihe bemerkenswerter Instrumentalsoli, darunter eine virtuos exekutierte Saxofonpartie und verschiedene Bläserakzente.
Mit ausführlichem Jubel und anhaltenden Bravorufen honoriert das Premierenpublikum eine Ensembleleistung, die auf denkwürdige Weise einen intensiven Eindruck von der Phantasie- und Empfindungswelt in der Mitte des 19. Jahrhunderts vermittelt.
Horst Rödiger
[url=https://roedigeronline.de/][color=#1155cc]https://roedigeronline.de [/url]