''Rossini ist insofern ungerecht, als er seine schönsten Melodien der faden ausufernden Liebeshandlung zueignet und so die politische Geschichte um Wilhelm Tell (Christoph Pohl) und den despotischen Gouverneur Gesler (Ante Jerkunica) musikalisch benachteiligt. Entsprechend bekommen Jane Archibald als die am Ende zur Freiheit bekehrte Habsburger-Prinzessin Mathilde und John Osborn als ihr wankelmütiger Liebhaber Arnold Melchthal – zu Recht – den meisten Applaus. Dafür dürfen sie darstellerisch nicht viel mehr tun als herumstehen und sich umarmen.
Am Schluss zieht sich Edwin Crossley-Mercer als Walter Fürst, der ständig auf der Bühne umherschleicht wie ein Abgesandter des Himmels, Geslers Uniformjacke über. Wir haben verstanden: der Tyrann ist tot, sein Nachfolger steht in den Startlöchern. Auch eine geschichtspessimistische Chiffre, die wir schon unzählige Male gesehen haben. Ob sich die tapferen Schweizer aus Uri, Schwyz und Unterwald darin wiedererkennen? Na ja, zum Glück ist man im Theater an der Wien noch nicht dem kuriosen Dogma verfallen, dass Bühnenkünstler zu sein hätten, was sie darstellen. Der österreichische Unterdrücker ist im wirklichen Leben Kroate. Dafür sind die meisten Mitglieder des Chors unübersehbar nicht die Schweizer, die sie spielen. Wir dürfen annehmen, dass dieser Walter Fürst kein neuer Gesler wird. Ist ja alles nur Theater. Und wo Menschen singen anstatt zu reden, ist auch eine Uniformjacke nur ein Kostüm aus dem Fundus.'' schreibt Thomas Rothschild am 22. Oktober 2018 auf
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